PR NEO 0045 – Mutanten in Not
Verbliebenen rächen wollen?
Es sei denn, in seinem Hirn wurde irgendwie ein Schalter umgelegt, und der ehemalige »König von Chittagong« wandelte sich gleichsam über Nacht zum wahnsinnigen Killer. Zu einem Serientäter, beherrscht vom Trieb, die eigene Vergangenheit auslöschen zu müssen ...
Bei diesen Überlegungen lief es Caroline kalt den Rücken hinunter. Entsprechend groß war die Versuchung, die Jagd nach André Noir abzublasen. Noch dazu hätte sie eine gute Rechtfertigung für die Rückkehr nach Terrania gehabt: Wie befürchtet funktionierten die Überreste des mexikanischen Souvenirs nicht mehr als »Medium«, um Noirs Aufenthaltsort festzustellen.
»Aber wir haben doch fast nichts davon verloren«, wandte Lekoche Kuntata ein. »Höchstens ein paar Sandkörner und Muschelsplitter. Die Glasscheiben und das Plastikskelett sind zwar zerbrochen, jedoch praktisch vollständig erhalten.«
»Trotzdem ist es nicht mehr dasselbe. Für Noir waren nicht die Einzelteile von Bedeutung, sondern das Ganze, die Gesamtgestalt, verstehst du? Und die lässt sich nicht wiederherstellen. Ich könnte mich jetzt noch in den Hintern beißen, weil ich im Trubel um diesen Trottel von Kommissar vergessen habe, ihm die von Noir ausgefüllten Sudokus abzuluchsen!«
»Wenn du eine Art psionischer Spürhund bist«, beharrte der junge Massai, »wieso genügt es dann nicht, dass du einmal ordentlich Witterung aufgenommen hast?«
»Es würde tatsächlich wochenlang ausreichen, hätte ich das Zielobjekt, also André Noir, persönlich von Angesicht zu Angesicht getroffen, für wenigstens einige Minuten. Aber ich bin ihm leider noch nie begegnet. Als ich am Strand von Lara ankam, war er bereits auf dem Schnellboot.«
Lekoche bohrte ungeniert in der Nase. Ein Rüffel dafür war allerdings unangebracht, da es niemand in der Flughafenhalle sehen konnte außer Caroline und auch sie nur, wenn sie sich darauf konzentrierte. Möglicherweise machte seine Paragabe sich ja die zutiefst menschliche Eigenschaft zunutze, dass besonders verstörende Wahrnehmungen unbewusst ausgeblendet wurden.
Was man partout nicht sehen will ...
Carolines eigene Nase lief, als trainierte sie für einen Marathon. Ein leichter Kopfschmerz hatte sich hinzugesellt, wohl ebenfalls ein Symptom der hartnäckigen Erkältung.
»Willst du die Verfolgung aufgeben?«, fragte Lekoche.
Tja, wollte sie das?
Die Gelegenheit wäre günstig gewesen. Sie befanden sich im Flughafen Wien-Schwechat, wo sie auch auf dem Hinflug eine Zwischenstation eingelegt hatten. Was hielt sie davon ab, sich den Umweg über Paris zu ersparen und gleich von hier aus Richtung Terrania aufzubrechen? Wien war Sitz zahlreicher internationaler Organisationen, daher gab es gewiss Direktverbindungen in die neue, rasant wachsende Weltmetropole.
Caroline holte ihren Pod hervor und rief eine Suchmaske auf.
»Was tust du?«
»Mir ist gerade ein Gedanke gekommen. Wenn der Parasinn nicht weiterhilft, warum nicht die gute alte Magie des Evernets bemühen?«
Wie seine Eltern hatte auch André Noir keine Spuren und Informationen im Netz hinterlassen. Zumindest nicht unter seinem richtigen Namen. In Zypern jedoch war er als Andreas Maúros aufgetreten – und dessen Aktivitäten für Sea Shepherd waren durchaus dokumentiert! Nicht eben üppig, nur recht sporadisch, aber immerhin.
Rasch konstruierte Caroline eine Routine, die das Netz nach ähnlichen Kombinationen von wörtlichen Übersetzungen derselben Vor- und Nachnamen durchforstete. Binnen Sekunden wurde das Hilfsprogramm fündig. Es warf Hunderte Treffer aus, viele davon deckungsgleich.
Andrew Black. Andriko Crno. Andrzej Czarny. Andor Fekete. Endre Kalo. Andrea Moro. Andrés Negro. Anders Svart. Andi Schwarz ... Und das betraf nur diejenigen ausschließlich europäischen Sprachen, von denen die Wörterbücher am leichtesten zugänglich waren!
Natürlich würde nicht jede dieser Personen mit dem gesuchten André Noir identisch sein. Aber einen Versuch war's allemal wert.
Seufzend beugte Caroline sich über den Pod und machte sich an die Feinarbeit.
So landeten sie wenige Stunden später in Sarajevo.
Noir war, hatte sich herausgestellt, von früh an ein unruhiger Geist gewesen. Seit Erreichen des Erwachsenenalters hatte er über ein Dutzend Mal den Wohnort gewechselt, verschiedene Studiengänge begonnen und recht schnell wieder abgebrochen. Außer dieser latenten Unzufriedenheit oder Sprunghaftigkeit hatte ihn aber offenkundig auch eine
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