PR NEO 0047 – Die Genesis-Krise
Möglichkeit mehr, den von Stagge postulierten Krieg zu verhindern. Vielleicht hatte dieser schon begonnen.
Als Tschubai erneut nachdachte, kam er zu einer anderen Einschätzung. Ganz sicher hatte der Krieg bereits angefangen.
»Es ist gut, dass ihr gekommen seid«, sagte Stagge plötzlich. »Wir haben schon auf euch gewartet.« Was sollte das nun wieder bedeuten?
Stagge?
Nein, das war nicht seine Stimme. Aber Ailin war es erst recht nicht – es handelte sich um eine Männerstimme, eindeutig, und sie klang sehr jung; vielleicht die eines Kindes. Doch außer den drei Mutanten hielt sich niemand in der Nähe auf. Keiner konnte sich anschleichen ... Die Wüstengegend lag völlig flach um sie herum, erstreckte sich hinter ihnen bis zum Horizont und nach vorne hundert Meter weit bis zu den Randgebäuden Terranias und dem Ufer des Salzsees. Es gab weder ein Versteck noch eine Deckung, und so undurchdringlich war die Finsternis noch nicht.
»Wer war das?«, fragte Ailin.
»Du hast es auch gehört?«, erwiderte Stagge verstört.
»Keine Angst«, ertönte die Stimme wieder, und mit einem Mal begriff Tschubai, dass er sie nicht mit seinen Ohren hörte, sondern direkt in seinem Kopf. In seinem Verstand. »Ich bin einer von euch«, sagte ... dachte der andere. »Ein Mutant, genau wie ihr. Aber ich kann eure Gedanken nicht lesen, ihr könnt mir nicht antworten. Ihr müsst mir einfach vertrauen und zu mir kommen. Und damit ihr wisst, mit wem ihr es zu tun habt: Ich bin der Sven.«
»Er ist ein ... ein umgekehrter Telepath«, sagte Ras Tschubai wenige Minuten später, als sie sich dem Ort näherten, den der Junge ihnen auf seine einmalige Art genannt hatte. »Er kann keine Gedanken lesen, aber Sätze in die Köpfe anderer Menschen hineinprojizieren. So als wäre er ein Funksender und unsere Gehirne Empfänger.«
»Und wir vertrauen ihm einfach so?«, fragte Ailin. Inzwischen wehte ein rauer Wind. Er fuhr ihnen in die Haare und brachte empfindliche Kälte mit sich, die in die Haut ihrer Gesichter biss.
»Wieso sollten wir ihm nicht vertrauen?«, fragte Stagge. »Er ist ein Mutant.« Damit war das einzige und zugleich allumfassende Argument auf dem Tisch, dem man nach seiner Meinung wohl nicht widersprechen konnte. In dieser Situation gab es für den Norweger nur noch zwei Gruppen, wie er schon mehrfach deutlich gemacht hatte: die Mutanten und die anderen. Ein wir und ein sie. Wer nicht zu ihnen gehörte, war fremd. Gefährlich. Und böse.
Aber war es wirklich so einfach? Für Stagge ging diese Schwarz-Weiß-Rechnung offenbar auf.
In Tschubai allerdings tobten Zweifel. Es überraschte ihn jedoch, dass sich diese Zweifel immer mehr auflösten. Eine Folge der Krankheit, die vielleicht auch Stagge am klaren Denken hinderte? Oder war alles eine einzige große Lüge? Ras Tschubais Skepsis und Skrupel verringerten sich mit jedem einzelnen Blick über den Goshun-See, wenn er die energetische Kuppel und das gigantische Raumschiff davor sah.
Der Junge Sven hatte auf seine einmalige Art ein vierstöckiges Gebäude am Stadtrand von Terrania beschrieben, das sich teilweise noch im Rohbau befand und in dem momentan in der Nacht niemand arbeitete, auch keine Roboteinheiten. Die drei Mutanten entdeckten es bald. Zwar waren Fenster und Türen bereits eingesetzt, aber wie ebenfalls gedanklich angekündigt, stand ein Seiteneingang offen. Die beiden Männer gingen zuerst, Ailin folgte.
Anne Sloane stand in dem kahlen Flur hinter der Tür. Sie hielt eine Taschenlampe in der Hand, die die Neuankömmlinge einen Moment lang blendete, weil sie ihnen in die Gesichter leuchtete.
Tschubai kniff die Augen zusammen. Sterne tanzten, verschwanden jedoch rasch. Das Streulicht der Lampe tauchte den Korridor in schummriges Licht. Anne Sloanes Haar war dunkel und ungepflegt, ihr ganzer Körper sah ausgezehrt aus. Sie war schon immer drahtig gewesen und eine sichtlich sportliche Frau; nun wirkte sie abgeschlafft und so erschöpft, als könne sie sich kaum auf den Beinen halten. Ein großes Pflaster klebte über der Schläfe. Ihr weißes Shirt war fleckig.
»Ras«, sagte sie. »Ich freue mich, dich zu sehen.« Sie wandte den Blick. »Und du musst ...«
»Ich bin Olf Stagge. Wir haben uns einmal in Lakeside gesehen, bei einer Vollversammlung.«
Anne Sloane hob müde den rechten Mundwinkel. »Entschuldige. Ich kann mir Gesichter schlecht merken, wenn viele in einem Raum sind.«
»Ich schon.« Stagge trat zur Seite. »Das ist unsere Schwester Ailin.
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