PR NEO 0049 – Artekhs vergessene Kinder
Spaltungskrieg getroffenen Vereinbarungen gehalten und nur das der Gemeinschaft zukommen lassen, was der Strom einem während der eigenen Zyklenwacht geschenkt hatte. Egal, worum es sich handelte.
Doch die Zeiten änderten sich. Der Khertak wurde großzügiger und spülte immer mehr Treibgut in das Gatter. Im Gegensatz zu früher brachte er aber nicht nur Segen. Erst vor wenigen Tausend Zyklen hatten die Khal im Laufe ihrer Wacht eine unterarmlange silberne Röhre mit blinkenden Leuchten erbeutet, die beim Transport zur Siedlung explodiert war. Drei Khal waren gestorben, einem vierten hatte man den zerfetzten Arm abschneiden müssen, um ihn zu retten. Vergeblich. Er war nur drei lichte Zyklen später in das Schöne Land eingegangen.
Einige Zeit danach hatten sie einen kopfgroßen schwarzen Stein im Gatter vorgefunden, den rötlich schimmernde Adern durchzogen hatten.
»Er zittert und bebt!« So hatten die Worte des Wachtführers Sheku gelautet, als er das Geschenk des Flusses an sich genommen hatte. Nach zehn Zyklen hatte Sheku selbst gezittert und gebebt. Ihm waren die Haare ausgefallen, im folgenden Dunkelzyklus die Zähne. Die Adern unter seiner Haut waren geplatzt, und statt eines zierenden Geflechts hatten schwarze Flecke auf seinem Gesicht geprangt. Den Aufstieg der Sternschwärmer zum Beginn des nächsten Zyklus hatte Sheku schon nicht mehr erlebt.
Das Misstrauen zwischen den Nethor-Stämmen war gewachsen.
Die Khal fürchteten, die Thas könnten entgegen der Vereinbarung Treibgut im Gatter lassen, das sie für gefährlich hielten. Die Thas wiederum unterstellten den Khal dasselbe.
So kam es immer häufiger vor, dass beide Gruppen bei der Flussgabelung vertreten waren. Die einen, um ihre Zyklenwacht abzuleisten, die anderen, um die Einhaltung der Gesetze zu sichern. Nicht selten gesellten sich die Hochväter dazu.
So auch bei dieser Wacht, die so völlig anders verlaufen sollte als alle bisherigen.
Da den Thas das Ernterecht zustand, beobachtete Thinche von einem Felsen abseits der Gabelung den Hochvater der Thas. Der Khertak zeigte sich wenig freigebig. Bis auf ein paar Kunststoffröhren, einen Kabelballen und verrottete Planken hatte er den Thas nichts geschenkt. Und so stand Thalyan, der oberste Thas, auf der Brücke, starrte auf den Fluss und versuchte offenbar, durch Geisteskraft ein paar lohnende Stücke herbeizuwünschen. Sein Gesicht war eine Grimasse des Zorns. Immer wieder brüllte er den Wachtführer aus nichtigen Gründen an, als ob dieser schuld an der mageren Ausbeute sei.
Er trug die Haare bis auf einen schmalen Kamm in der Mitte des Schädels rasiert. Der Kamm schimmerte rötlich im Licht der Sternschwärmer. Wahrscheinlich hatte er den Dotter eines Bolany-Eies ins Haar massiert, um ihm die nötige Standkraft zu verleihen. Gewiss wollte er damit nicht nur seine herausragende Rolle unterstreichen, sondern auch auf seine Tapferkeit hinweisen. Schaut her, ich bin ein Felssteiger, und ich habe einem Raubvogel ein Ei gestohlen!
Thinche fand, dass es lächerlich aussah. Gerade als er seine Beobachtung beenden und in die Siedlung zurückkehren wollte, kippte die Stimmung.
»Seht doch!«, schrie Thalyan. »Der Khertak bringt ein Geschenk!«
Gharjochun saß mit hängendem Kopf auf seinem Sessel, die Augen geschlossen. Thinche glaubte, der Geschichtswahrer sei eingeschlafen, und unterbrach die Erzählung.
»Will er mir vorenthalten, über welches Geschenk sich Thalyan freute?«, fragte der Alte plötzlich, ohne die Körperhaltung zu ändern.
»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich der Hochvater der Khal zu sagen. »Es war ein gekentertes Boot.«
»Ein schönes Geschenk. Selten.«
»Ich kann nicht verhehlen, dass ich neidisch wurde.«
»Seine Offenheit ehrt ihn. Was geschah weiter?«
»Die Thas bargen ihre Beute und schafften sie auf ihre Seite des Zweistromlands. Sie ließen das Gatter wieder zu Wasser. Und kurz darauf ...« Thinche stockte.
»Kurz darauf?«
»Kurz darauf spülte der Khertak noch ein Boot an. Und mit ihm zwei Körper.«
Gharjochun hob den Kopf und sah dem Hochvater in die Augen. Sein Blick verriet Neugier.
»Lebende Körper«, ergänzte Thinche.
»Wahrlich, ein noch viel selteneres Geschenk.«
Der Hochvater lachte. »Die Wachtführer erzählen, dass es früher gelegentlich vorgekommen sei, dass der Khertak tote Leiber gebracht hat. Aber wir wissen, wie Wachtführer sind. Sie neigen zur Ausschmückung und Übertreibung. Doch sogar sie sagen, dass seit dem
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