PR NEO 0050 – Rhodans Weg
du gleich sehen. Komm!«
»Wohin?«
»Nach oben! Dahin wolltest du eben noch, oder?«
Er wird dir nichts tun!
Sue Mirafiore sagte sich den Satz immer wieder auf, während sie sich durch den Untergrund von Lakeside arbeitete – sich schmerzhaft bewusst, dass sie erst vor wenigen Stunden mit ähnlichen Worten versucht hatte, sich zu ermutigen.
Auf dem Weg zu Monk, dem Mörder, ihrer Rettung. Sie hatte recht behalten. Monk hatte ihr nichts getan. Er hatte sich als schwach erwiesen, ängstlicher noch als sie selbst.
Die Angst vor dem Schatten hatte Monk umgetrieben – dem Schatten, mit dem angeblich John Marshall gemeinsame Sache machte.
Sues Hand klammerte sich um den Griff des Messers. Wirf es weg!, sagte sie sich. Du brauchst es nicht! John würde dir niemals etwas tun!
Ihre Hand – es war jene, die nachgewachsen war – gehorchte nicht.
Sue ging weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Der Korridor war lang, sein Ende war im schummrigen Licht der Notbeleuchtung nicht zu erkennen. Büros und kleinere Konferenzräume säumten ihn zu beiden Seiten. In einem von ihnen war John, hatte man ihr im großen Saal gesagt. John ruhte sich aus.
Vor ihr schälte sich eine Gestalt aus dem Dämmerlicht. Ein dunkler Schemen. Der Schatten! Sue erstarrte, wollte das Messer ziehen, als sie erkannte, wen sie vor sich hatte: Mirage.
»Mirage!«, rief sie. »Du schon wieder? Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!«
»Tut mir leid. Das wollte ich nicht.« Das Mädchen hatte die Schultern hochgezogen. Es flüsterte – beinahe, als hätte es Angst, dass jemand mithörte.
»Was ist los?«, fragte Sue. »Wieso bist du nicht bei den anderen?«
»Ich ...« Mirage brach ab. »Ich weiß nicht.«
»Das ist keine Antwort!«, wollte Sue entgegnen, aber sie beherrschte sich. Es ist zu viel für sie! Vergiss nicht: Der Schein trügt. Sie ist erst sechs, ein kleines Kind!
»Schon gut, Mirage. Ich verstehe. Es ... Alles wird wieder gut, ich verspreche es dir.«
»Danke!«
Mirage duckte sich, flitzte an Sue vorbei und verschwand am anderen Ende des Korridors.
Sue versuchte nicht, sie aufzuhalten. Sie würde später nach Mirage sehen, wenn sie das hier hinter sich gebracht hatte.
Sue setzte ihren Weg fort. Nach einiger Zeit schwenkte der Korridor nach links. Kurz darauf fand sie John Marshall.
Ein Lichtschein, der durch die Aussparung einer halb geöffneten Tür drang, verriet ihn. Er hatte es sich in einem Bürostuhl bequem gemacht, die Füße hochgelegt und las.
John Marshall bemerkte sie nicht.
Sue musterte ihn. Das war der Mann, den sie kannte und schätzte. Wenn der Druck im Pain Shelter zu groß geworden war, hatte John die Laufschuhe angezogen oder war auf das Rennrad gestiegen, und wie durch ein Wunder war er stets von seinen Runden zurückgekehrt, ohne dass ihn eine der vielen Gangs in Sugarland belästigt hätte.
Oder John hatte sich in seine Kammer zurückgezogen, die er »Zimmer« nannte, aber die Bezeichnung nicht verdient hatte, und war ganz in einem Buch aufgegangen.
Ganz gleich, was er gewählt hatte, wenn John wieder unter den Kindern weilte, hatte er seine innere Ruhe wiedergefunden – und meistens eine Lösung.
»John?«, sagte sie leise.
John Marshall sah auf. Er brauchte einen Moment, in das Hier und Jetzt zu gelangen, dann begriff er, wer ihn gerufen hatte. »Sue? Komm rein!«
Er nahm die Füße vom Tisch und legte das Buch ab. Sue konnte den Umschlag erkennen: »Walden« von Henry David Thoreau.
»Was kann ich für dich tun?« John war nicht ärgerlich, dass sie ihn gestört hatte. Das war er nie gewesen. Sue konnte John jederzeit besuchen, egal, was sie beschäftigte.
»Ich wollte dir sagen, dass es Tatjana wieder besser geht«, sagte Sue. »Heidi und Nirina kümmern sich um sie. Sie sagen, dass sie nur ein paar Schrammen hat und erschöpft ist. Sie wird wieder.«
Es war die Wahrheit – und doch nur der Vorwand für Sue, ins Gespräch zu kommen.
»Das freut mich zu hören«, sagte John und lächelte sie an.
Weiter!, ermahnte sie sich in Gedanken. Rede weiter! Los!
Es ging nicht. Sue hatte sich nicht mehr als den ersten Satz zurechtgelegt. Weiter hatte sie nicht denken können. Und mit Johns entwaffnender Freundlichkeit hatte sie nicht gerechnet.
»Dir liegt etwas auf der Seele, nicht?«, sagte John. »Das sehe ich dir doch an.«
Sie nickte dankbar.
»Dann raus damit!«
»Es ist ... Ich habe Angst. Ich vertraue Allan. Er war immer gut zu uns. Er meint es gut mit uns.
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