PR TB 020 Das Gesetz Der Gläsernen Vögel
Wissen war ein Teil seiner Gedanken - nichts, was er vergessen
konnte. Jeder Mensch auf Glynth lebte nach diesem Gesetz.
»Du liebst?« fragte Thoogr wieder. Thay nickte heftig.
»Wen?«
»Du weißt es. Srisupak.«
»Warum liebst du sie?«
Lächelnd entgegnete Thay: »Weil ich sie begehre. Ihr
Gesicht, ihre Haut, ihr Lächeln und ihr Gang… sie ist schön.«
»Wenn du Srisupak zur Frau nimmst - welche Pflichten habt
ihr?«
»Zu lieben, füreinander zu sorgen und Söhne zu
bekommen. Söhne, die Jäger werden, und Töchter, die
Matten weben, kochen und lernen. Sie sind es, die lesen und schreiben
müssen - nicht wir, die Jäger.«
»Und wenn sie unfruchtbar ist?«
»So werde ich sie verstoßen. Ohne Mitleid, denn…«
»… Mitleid ist Schwäche. Härte ist das Wesen des
Jägers«, vollendete Thoogr laut. »Und so sage ich
dir, und ich sage es allen: Alles, was von den Vögeln ausgeht,
ist gut. Es ist das Gesetz und das Gesetz ist unser Gesetz. Bringt
nun das Mädchen.«
Als die schlanke Gestalt, nur mit einer kurzen, weißen
Tunika bekleidet, an den Speeren entlangglitt, begannen die
Instrumente wieder zu ertönen. Das Hämmern der Trommeln,
mächtige Bäume, über deren ausgebrannte Höhlungen
man Tierfelle gespannt hatte, klang wie Gewitter. Darüber
zitterten die Klänge der gezupften Saiten; ein großes
Muschelhorn wurde geblasen. Zwei Jäger traten vor, sie trugen
dunkle Tücher in den Händen. Sie verhüllten zuerst den
Kopf des Mädchens, dann verbanden sie Thay die Augen. Schwärze
senkte sich herab, und plötzlich schien jedes Geräusch
doppelt so laut und unheimlich deutlich zu sein. Wieder erstarben die
Töne. Schweigen breitete sich aus. Thoogrs Stimme:
»Ein neuer Jäger ist in unserem Stamm. Er ist jung und
stark, und er nimmt heute eine Frau: Srisupak. Sie wird ihm Söhne
gebären, und sie wird in die Wüste verstoßen, wenn
sie versagt. Das ist alles. Das Gesetz der Vögel sagt, daß
es gut ist. Ich warte.«
Der Vogel über ihm kreiste lautlos, ohne eine Regung. Die
Menschenmenge erstarrte und wartete mit angehaltenem Atem. Es war
geschehen - vor Jahren schon -, daß das Gesetz gegen eine
Verbindung war. Ein fahler Blitz hatte damals das Mädchen
niedergeschmettert und getötet. Später erkannte man, daß
dieses Mädchen unheilbar krank gewesen war. Nichts geschah.
»Das Messer!« Thoogr trat vor, ergriff das Messer und
die beiden älteren Jäger hielten mit unbewegten Gesichtern
die Arme des Jungen und des Mädchens fest. Die Spitze des
Messers ritzte die Haut; zwei kleine Schnitte, und zwei Blutstropfen
traten aus. Sie fielen in den Becher aus gehämmertem Edelmetall,
in dem dunkelroter Wein war. Er roch schwer und betäubend.
»Du trinkst zuerst, Thay!«
Thay gehorchte und spürte, wie sich langsam schleichendes
Feuer in seinen Eingeweiden ausbreitete. Wärme durchzog seinen
Körper und verwischte die Klarheit der Gedanken. Er hörte
verschwommen die Stimme des alten Jägers.
»Jetzt du - Srisupak.«
Thay hörte die Geräusche des Trinkens, dann wieder die
Stimme Thoogrs. »Bringt sie in ihre Hütte. Später
werden wir die Waffen vor ihre Tür stellen.« Die
Instrumente begannen wieder mit ihren Klängen, und Hände
griffen nach Thay und Srisupak, führten sie in eine neu
eingerichtete Hütte des dritten Kreises. In der Dunkelheit nahm
man ihnen die Binden ab und ließ sie allein. In der Ferne
verklangen die Takte der ausgehöhlten Baumstämme.
Nach geraumer Zeit liefen die Maschinen wieder an, die das Licht
für die Bogenlampen erzeugten und für zahllose andere
Geräte. Und Srisupak blickte in das Gesicht ihres Mannes. Thay
sah in dem Licht, das durch ein schmales Fenster hereinfiel, den
Körper seiner Frau. Er lächelte in der Dunkelheit. Er
nickte zufrieden; so war es gut - es entsprach dem Gesetz und seinen
Vorstellungen.
Das anschwellende Murmeln der Versammelten aber hatte er überhört.
Indes - es hatte nicht ihm gegolten.
Das Licht der kristallklaren Sterne schien die Wüste zu
durchdringen, sie in eine spukhafte Landschaft zu verwandeln. Winzige
Pünktchen waren voraus; sie standen auf der Stelle, aber ihr
Licht verschwamm wie das Bild der Gestirne, wenn warme Luft aufstieg.
Tharc Yser spürte tief in sich, daß sie an einem Ende
waren.
Er ritt dicht neben Keenra, und die warmen Körper der Ca-vans
berührten sich dann und wann. Yser hielt ihre Hand fest - zum
erstenmal hatte Keenra es geschehen lassen, ohne die Hand schnell
wegzuziehen. Hatte sie Angst? Er wußte es
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