PR TB 020 Das Gesetz Der Gläsernen Vögel
mächtigen Feuer. Man hatte die Bogenlampen heute nicht
eingeschaltet; die Motoren standen still und schickten nicht, wie
sonst, ihre hämmernden Geräusche in die Dunkelheit hinaus.
Die hundert Hütten des innersten Kreises stachen wie rötliche
Dreiecke in die Schwärze. Die Flammen schlugen hoch, und die
Rauchsäulen drehten sich weiß und senkrecht hinauf.
Von den hunderttausend Einwohnern der Insel des strafenden Gottes
waren es mindestens achttausend, die in zehn Reihen den zentralen
Platz umstanden und leise miteinander redeten. Die Feuer bildeten,
durch gedachte Linien miteinander verbunden, ein gleichmäßiges
Viereck. In der Mitte zwischen ihnen stand ein niedriger Tisch, mit
einem schwarzen Tuch bedeckt. Waffen lagen darauf - stählerne
Flächen zuckten wie lebendig in dem roten Schein. Ein scharfes
Messer, ein Köcher voller Raketenpfeile und der dazugehörige
Bogen, drei Reiterpistolen und der Gurt, Munition und zwei Äxte.
Diese Äxte waren das Schönste. Zweischneidig, fein
ziseliert, silberglänzend und leicht, genau ausgewogen - zum
Werfen, Schneiden, Hacken und Töten. Für die Jagd und den
Kampf, zum Hausbau: Allzweckwaffen. Schwarze Holz griffe, eine lange
Schaffung. Neben den Waffen stand Thoogr, der Klanälteste. Er
trug die Jägerkleidung: Kurze Stiefel, kurze Hose und breiten
Gürtel und ein Armband, das vom Handgelenk bis zum Ellenbogen
des rechten Armes reichte. Man konnte die tiefe Narbe darunter nicht
sehen.
Zwei Reihen von Speeren steckten im Boden, die Blätter
aufwärts gerichtet. Sie wirkten im unsteten Licht wie rote
Fackeln. Sie führten in die Mitte des Zentralkreises, gingen aus
vom Frauenhaus und von einer der Hütten. Trommeln begannen im
Hintergrund zu pochen. Eine Kerbstegzither gab heulende, wimmernde
Töne von sich; Kadenzen, die der Szene eine dämonische
Bedeutung gaben. Plötzlich riß das rhythmische Donnern ab,
auch die jaulenden Töne der Zither schwiegen. Das Murmeln der
versammelten Menschen verstummte. Schweigen senkte sich wie eine
undurchdringbare Glocke über den runden Platz. Nur die Feuer
brannten knisternd. Thoogr hob den rechten Arm. Dann sagte er laut:
»Thay! Komm zu mir in die Mitte des Kreises!«
Schweigen. Wenn einer der Jäger in die Höhe blickte,
konnte er die sichelförmigen Silhouetten zweier Vögel
entdecken, die über dem Rondell schwebten. Lautlos, alles sehend
und bereit, tödliche Schläge auszuteilen.
»Thay!«
»Ich komme. Du riefest mich zweimal. Ich komme.«
Thay trat aus der überhängenden Türbohle der Hütte
und ging entlang der Speere auf die Mitte des Kreises zu. Sein Gang
war sicher und fest. Er war gewaschen und geölt worden; die
Streifen auf der Brust hatte man entfernt - die Salbe hatte schnell
gewirkt. Thay schwieg, bis er dicht vor Thoogr stehenblieb.
»Ich bin hier«, sagte er laut. Jeder der Versammelten
hörte es.
Thoogr sagte:
»Du hast einen Okpara gejagt und gefangen, er liegt draußen
am Wall und verwest. Du bist Jäger, und du wirst als Jäger
sterben, in vielen Jahren. Die anderen sagen, du wärest ein
guter Jäger. Bleibe es und jage gut.«
»Ich verspreche es«, sagte Thay.
»Du weißt, was ich jetzt fragen werde?«
»Ich weiß es«, antwortete Thay ungerührt.
»Ich habe es gelernt.«
»Du weißt, daß über uns das Gesetz schwebt,
ohne das ich keine Macht habe und das stets bei mir ist, wenn ich
Recht spreche?«
»Ich weiß es, Thoogr.«
Über ihren Köpfen ertönte ein Fauchen; warnend,
aufmerksam.
»Warum leben wir, Thay?« fragte der Klanälteste
ruhig. Ebenso ruhig gab Thay Antwort.
»Wir leben, um zu arbeiten, zu jagen, stark zu werden und
gesund zu bleiben.«
»Wozu schlafen wir?«
»Um ausgeruht zu sein. Ausgeruht und stark für die Jagd
und die Arbeit.«
»Warum arbeiten wir?«
»Um zu tauschen, nachdem wir satt sind.«
»Warum tauschen?«
Thay überlegte kurz, dann wußte er die Antwort.
»Wir tauschen, weil alle Menschen aller Inseln ein
gemeinsames Wissen und ein gemeinsames Leben haben sollen. Alles, was
ich kenne, kennst auch du, und alles, was du kennst, kennt jeder
Mensch in allen zwanzig Inseln.«
»Wer gibt Befehle?«
»Die gläsernen Vögel. Sie befehlen und richten.«
»Was ist Gehorsam?«
»Gehorsam ist der Zweck allen Handelns.«
Es fiel Thay leicht, die Antworten zu geben. Er hatte es in
zwanzig Planetenumläufen lernen müssen, daß jedes
Handeln von den Vögeln kontrolliert und Verstöße
gegen den Kodex erbarmungslos und auf der Stelle bestraft wurden.
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