PR TB 040 Herr über Die Toten
die
Fünfhunderttausend nicht sterben zu lassen. Sie sollten Zeugnis
ablegen von der Vergangenheit des Großen Volkes. Und ich
verleihe ihnen Leben, gebe ihnen die gewohnte Umgebung - und schütze
sie vor Gefahren, die von außen kommen!”
Die letzte Erkenntnis brachte mich an den Rand des Wahnsinns.
NOKTURN mußte einst geschaffen worden sein, um die
Erinnerungsspeicher zu koordinieren, um die Erinnerungen
abfragebereit zu halten, für Nachkommen der Stadtbewohner, die
auf die Welt der Verbannung zurückkehrten. Aller
Wahrscheinlichkeit nach erfolgte das Abfragen der Erinnerungen mit
Hilfe eines Illusionskristalls. Finch Eyseman hatte vor einiger Zeit
einen Blick in das Geheimnis Maa Duuns werfen dürfen - aber da
war die erste Veränderung bereits eingetreten, denn er hatte nur
eine sterbende Stadt “gesehen”. Die
Koordinationspositronik arbeitete nicht mehr nach der ursprünglichen
Programmierung. Ein winziger Defekt konnte das bereits ausgelöst
haben.
NOKTURN war nicht mehr als ein schizophrenes Positronengehirn -
kein Wunder, daß die von ihm koordinierten Identitäten
ebenfalls schizophren wurden!
Ich senkte den Kopf und erwartete gefaßt die Vollstreckung
des Urteils.
Nur nicht mehr denken müssen! Nur nicht länger an die
Qualen erinnert werden, die fünfhunderttausend Speicherimpulse
durch die Aktivierung ihrer Identitäten durchgestanden hatten -
Jahr um Jahr, Jahrhunderte hindurch!
Erst nach einiger Zeit wurde mir bewußt, daß es still
geworden war im Saal der Ältesten. Ich hob den Kopf und suchte
die Bankreihen ab.
Leer!
Auch die Stimme NOKTURNS war verstummt.
Und noch immer hatte ich die Illusion wirklichen Seins.
Ich wollte schreien, irgend etwas tun, um die bedrückende
Stille zu brechen.
Doch plötzlich wallten weiße Nebel aus dem Boden,
stiegen empor - und was sie berührten, löste sich in Nichts
auf. Ich konnte zusehen, wie zuerst meine Beine, dann mein Leib
verschwanden.
Dann hatten mich die Nebel verschlungen.
*
Grauenhafter Schmerz pulsierte in allen Zellen meines Körpers.
Ich wand mich auf dem harten Boden, krümmte mich - und schrie
meine Qual hinaus.
Aber der Schmerz verebbte, und ich konnte meine Umgebung erkennen.
Sie erschien mir seltsam vertraut.
Innerhalb einer von grünlichem Licht erhellten Halle standen
fünfPositronengehirne. Das sechste Gehirn war verschwunden!
Nachdenklich starrte ich auf die Stelle, über der es bei
meinem zweiten Besuch in der Halle der ewigen Nacht geschwebt hatte.
Ich fühlte, daß ich nicht mehr nur eine positronisch
gesteuerte Scheinidentität war ich fühlte es, obwohl ich
zugleich wußte, daß Finch, Elena und ich damals wirklich,
körperlich gestorben waren.
Ein Stöhnen riß mich aus meinen Gedanken.
Ich fuhr herum.
Eine monströse Gestalt krümmte sich auf dem Boden der
Halle, ein furchtbar verunstaltetes Wesen mit menschlichem Gesicht!
Ein Ungeheuer mit Elenas Gesicht!
In fassungslosem Entsetzen starrte ich in ihre braunen, von
Schmerz verdunkelten Augen, kroch auf Händen und Füßen
zu ihr und wußte doch nicht, wie ich ihr helfen sollte.
“Lun!”
Das geflüsterte Wort war kaum vernehmbar über die
bebenden, blutleeren Lippen gekommen.
“Lun, ich liebe dich!”
Zwei Tränen rollten über ihre Wangen. Ich wischte sie
gedankenlos ab. Da streckte Elena ihre Arme aus und ich konnte nicht
anders, ich mußte mich hinabbeugen und sie auf den zitternden
Mund küssen. Alles erschien mir irgendwie unwirklich; dennoch
sagte mir der letzte Rest klaren Denkens, daß es grausame
Wirklichkeit war, was ich sah und erlebte.
“Was… was ist… ?” stammelte ich.
Sie klammerte sich noch stärker an mich, und ich erwiderte
den Druck, als könnte ich dadurch ihren entfliehenden Geist
festhalten. Denn Elena Jossipowa starb…
“Der… Illusionskristall…” hauchte sie. “Er…
er zeigte mir die Wahrheit. Wir… waren… tot… und lebten als
positronische Impulse. Der ID-Kode… !”
Die Stimme erstarb in einem Seufzen, aber ihre Augen wiesen nach
oben. Ich neigte den Kopf zurück und sah unter der Decke eine
Scheibe von ungefähr zwei Metern Dicke schweben.
“… nach dem Prinzip… eines Transmittermaterialisators”,
vernahm ich erneut Elenas Stimme. “Ich… kenne… mich aus.”
Ihr Atem ging hastiger.
“Ruhig, Elena!” flüsterte ich und strich über
ihr flachsblondes Haar. “Ich werde Hilfe holen, und du wirst
wieder gesund werden.”
Ihre Augen sagten mir, daß sie ihren Zustand kannte.
“Wir alle…
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