PR TB 047 Höllentanz Der Marionetten
Unordnung und räumte die Scherben weg, dann richtete er den
Stuhl auf, so daß seine Vorderseite zum Balkon wies.
Dann setzte er sich hin und wartete, bis sich der Horizont über
dem unbewegten Wasser der großen, runden Bucht erhellte.
*
Irgendwann fröstelte ihn vor Müdigkeit, und er legte die
Jacke um die Schultern. Das hastige Atmen des Mädchens schräg
hinter ihm ging allmählich in die ruhigen Atemzüge des
Schlafes über. Als Rogier in die Tasche faßte, um die
Zigaretten hervorzuholen, ertasteten seine schmerzenden Fingerspitzen
einen viereckigen harten Gegenstand. Er zog ihn hervor und
betrachtete ihn im Licht des Morgens. Es war das Zuckerstückchen
aus dem Starmont.
Bilderfolgen und Vorstellungen bewegten sich in den Überlegungen
des Mannes. Sein Verstand, der hinter vielen Dingen eine Geschichte
und hinter manchen Geschehnissen einen erweiterten
Vorgang oder eine Folgeerscheinung sah, erstellte eine Hypothese,
die sehr kühn anmutete. Und je länger Regier darüber
nachdachte, um so stichhaltiger wurde sie.
Gegen sieben Uhr morgens rief er einen Arzt an und bat ihn, um
neun Uhr hierherzukommen; das Symptom wäre Schwäche und
Abgespanntheit, vielleicht einige angegriffene Nerven.
Dann rief Regier die zentrale Auskunftei an und erbat sich die
Adresse eines biologischen Untersuchungslabors. Er erhielt sie und
schrieb sie auf.
Blydenstayn-Labor, Whaling Street
Dann wachte Sandia auf. Sie blieb still liegen und öffnete
die Augen. Dicht davor war der verbrannte Fleck in der Wand. Rogier
beobachtete sie wie einen klinischen Fall. Das Mädchen blinzelte
etwas, dann schien ein Teil ihrer Erinnerung zurückzukommen. Sie
setzte sich auf und knickte in den Armen ein; die Sehnen waren noch
betäubt, die Nerven überreizt. Lautlos stand Rogier auf.
Mit Mühe drehte sich Sandia um, öffnete die Augen weit und
bemerkte dann Rogier. „Was ist passiert …?“ fragte
sie mit krächzender Stimme. Rogier setzte sich neben sie auf die
Kante und schob seine Hand unter ihren Kopf. Mit der anderen Hand
strich er eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Nichts Besonderes“, erklärte er. „Du
bekamst deinen Anfall. Mitten darin muß dir jemand befohlen
haben, mich umzubringen. Du hast dich sehr bemüht, diesem Befehl
zu gehorchen. Wir haben uns gegenseitig fast totgeschlagen. “
„Rogier“, sagte sie flüsternd. Das Sprechen
schien ihr Schmerzen zu bereiten. „Ist etwas geschehen?“
„Sachschaden“, sagte er beruhigend. „Ich mußte
mich mit einigen Karateschlägen wehren.“
„Sonst wartete ich in diesen Träumen des Wahnsinns auf
einen Befehl und war jedesmal enttäuscht, daß er nicht
kam. Diesmal kam er. Werde ich verrückt?“
Er schüttelte den Kopf.
„Kaum“, sagte er, „solange ich es verhüten
kann. Bis zum achtzehnten des Monats hast du Ruhe. Ich muß
jetzt in die Redaktion. Ich habe einen Arzt angerufen, der ungefähr
um neun Uhr kommen wird. Erzähle ihm irgend etwas. Meinethalben
von einem Oxtorner, der dich schänden wollte.“ „Wann
sehen wir uns wieder?“
Er hob zweifelnd die Schultern. „Vermutlich rufe ich dich
an, wenn ich in der Redaktion Zeit habe. Sonst irgendwann abends. Ich
hole dich ab, ja?“
Er betrachtete sie genau, mit seinen klugen braunen Augen, die von
dem Netzwerk vieler kleiner Falten umrahmt waren und jetzt über
schweren, geröteten Lidsäcken lagen. Sie war, wie er und
unzählige andere, in den Strudel hineingezerrt worden.
„Ja“, sagte er. „Ich denke, ich werde dich
abholen.“
Sie blickte ihn schweigend an und hatte die Unterarme auf seine
Schultern gelegt, ohne sie zu bewegen.
Vermutlich war sie, wenn alles vorbei war, verändert. Er
blickte in ihr Gesicht, das jetzt mehr denn je offen und von den
Spuren der Nacht gezeichnet war und von der Krise ihres Verstandes.
Sis war wie ein Kind, das zu Unrecht geschlagen worden war.
„Schlafe dich aus“, sagte er müde und lächelte
kurz. „Und lauf nicht weg. Ich würde dich einholen. Bis
später.“
Er küßte sie kurz auf den Mund und verließ das
Apartment.
*
„Ja“, sagte er zum zweiten Mal, „meinethalben
können Sie mich für verrückt erklären. Ich möchte
nichts anderes, als daß Sie dieses Zeug hier nehmen und es
untersuchen. Sie dürfen nicht länger als vier Tage dazu
brauchen. Die Kosten sind unwichtig. Ich brauche eine Analyse und,
wenn möglich, ein Gegenmittel oder etwas, das man zu einem
Gegenmittel machen könnte. Sollte sich herausstellen, daß
es reiner Rohrzucker ist,
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