PR TB 203 Rote Sonne Uber Rubin
das
Mädchen an den schmalen Kinderarmen.
Giselles Augen schienen trüber zu werden.
»Du bist anders«, sagte sie mit weinerlicher Stimme.
»Ich kann dich nicht spüren.«
Es traf mich wie ein körperlicher Schlag. Unfähig, mich
zu rühren, starrte ich sie an, wie sie sich meinem Griff entwand
und weinend davonlief.
»Du darfst es nicht ernst nehmen«, hörte ich
Susan sagen, aber der Sinn ihrer Worte schwamm an mir vorbei. »Sie
ist ein Kind.«
Damals war mir erstmals bewußt geworden, wie fremd sich die
durch nur eine Generation getrennten Menschen bereits geworden waren,
wie weit die Mutation schon fortgeschritten war. Ich war niemals in
der Lage gewesen, zu einer Person oder einem Tier jene geistige
Übereinstimmung zu spüren -Giselle konnte es. Und sie
beurteilte ihre Mitmenschen nach dem Grad der psychischen Affinität.
Sie war nicht fähig, mentalen Kontakt zu mir oder meinem nicht
mutierten Gehirn aufzunehmen, sie spürte mich nicht. Es mangelte
mir an den für diese jungen Menschen maßgebenden
Kriterien.
Seitdem wußte ich, daß ich anders war.
Anders als Susan und Gene.
Anders als Giselle und ihr Zwillingsbruder Gunter.
Nach diesem Erlebnis hatte ich lange über den Sinn meiner
Existenz gegrübelt, tagelang hatte ich nachgedacht, viele Abende
hatte ich hemmungslos geweint. Niemals wäre jemand auf die Idee
gekommen, mich wegen meiner Andersartigkeit, die nicht mehr den
Normen entsprach, aus der Gemeinschaft auszustoßen. Im
Gegenteil, die Alten führten ein angenehmes Leben ohne Sorgen
und Entbehrungen. Aber das Bewußtsein, daß ich fremd war,
hatte sich in mir festgesetzt und war nicht mehr zu verdrängen.
Fortan fühlte ich mich, auch wenn ich es nicht wirklich war, als
Verachteter, Verdammter.
Auch heute noch.
Vielleicht ist es der Grund, warum ich mich entschlossen habe,
meine letzten Tage in der Stadt zu verbringen. Dort bin ich
aufgewachsen, dort möchte ich auch sterben. Und ich bin Susan
dankbar, daß sie mir die Möglichkeit gibt, meinen Wunsch
zu verwirklichen.
Es ist ihr schwergefallen. Es entspricht nicht den Regeln. Sie tut
es dennoch.
Ich bin mir darüber im klaren, daß es zu einem großen
Teil auch bittersüße Sentimentalität ist, die mich in
die Stadt treibt. Eine Flucht zurück, fort von einer modernen
Gesellschaft, die ich nicht mehr zu verstehen vermag, hinein in eine
Umgebung, die Zeugnis vom einstigen Tatendrang und einer früheren,
begreifbaren Denkweise der Menschheit ablegt. Oft hat mich eine
grenzenlose Einsamkeit in Gedanken in die Stadt getrieben, doch
niemals hatte sich jemand bereiterklärt, mir einen Weg dorthin
zu ermöglichen.
Jetzt ist es soweit. Es ist mein letzter Wunsch. Susan respektiert
ihn.
Weit vorn am Horizont tauchen die Dächer der Bürobauten
auf. Das bohrende Gefühl des näher rückenden
endgültigen Abschieds erwacht in mir, eine grenzenlose Trauer
beginnt mich zu überwältigen. Susan und ich reden nicht
viel miteinander. Ich kann mir vorstellen, was in ihr vorgeht. Sie
begleitet ihren Vater auf seiner letzten Fahrt. Sie hat das Risiko
auf sich genommen, einen baufälligen und kaum noch benutzbaren
Fluggleiter in Betrieb zu setzen, hat alle Normen und Anschauungen
der Gesellschaft ignoriert, um meine Bitte zu erfüllen. Es kann
ihr nicht leichtgefallen sein, und ich bin sicher, daß sie
ebenso Trauer empfindet, wenn auch aus anderen Gründen als ich.
Die Stadt kommt rasch näher. Immer mehr Gebäude sind zu
sehen. Es leben nur noch wenige Menschen dort, Leute, die das Dasein
in einer verständnisvollen Natur nicht ertragen können,
Eremiten, die vergeblich nach einem tieferen Sinn in der seltsamen
Entwicklung auf Rubin gesucht haben. Es sind alte Menschen, Greise,
deren Zeit ebenso abläuft wie meine. In ein paar Jahren wird man
uns vergessen haben. Wir werden kein störender Faktor mehr sein.
Seitlich von den Gebäuden erhebt sich in imposanter
Mächtigkeit die Kugel des Raumschiffs. Ein Gebilde von
atemberaubender Schönheit, Symbol
beherrschter und gebändigter Kraft, Denkmal einer vergangenen
Zeit. Nie war es uns gelungen, das Schiff zu starten. In vielen
Versuchen hatte sich herausgestellt, daß unser Wissen bereits
zu gering war, um alle Systeme zu verstehen und zu kontrollieren.
Irgendwann haben wir es aufgegeben. Ein unergründliches
Schicksal hat uns ausersehen, auf diesem Planeten zu bleiben und ihm
im Lauf der Jahre eine neue Komponente des gemeinschaftlichen Lebens
zu werden.
Susan fliegt eine weite Schleife über die
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