PR TB 217 Das Mittelmeer Inferno
alle anderen Personen, die Teil des Orakels waren, standen
außerhalb eines solchen Geschehens.
Die Mädchen wechselten sich zum Klang der Musik und dem
dumpfen Laut der Stierhufe ab. Sie führten zusammen mit dem
Stier, der immer wieder angriff, ein Ballett auf. Es sah gefährlicher
aus, als es war, aber jede Sekunde konnte das Hörn des Stieres
sich in Fleisch bohren, konnte Muskeln und Gelenke zerfetzen und ein
junges Mädchen töten.
Begeisterte Schreie der Menge lösten sich mit anfeuernden
Rufen ab, ehrfürchtiges Stöhnen erklang, die Musik wurde
lauter und wieder leiser, der Stier schien erschöpft zu sein.
Seine Flanken hoben und senkten sich schneller und schneller. Sein
Fell war schwarz geworden vor Schweiß.
Natürlich kannte ich keinep der Mädchen. Ich wußte
nur, daß dieses Ritual auf mich bestenfalls abstoßende
Wirkung zeigte, wenn ich auch die hervorragende Artistik der
geschulten Tänzerinnen vorbehaltlos bewunderte. In einer Zeit,
in der die Frau die legitime Beute eines jeden Siegers war, in der es
Leibeigene, Sklaven und verurteilte Verbrecher gab, deren Leben
schlimmer war als das von geschundenen Tieren, war der Anblick von
lächelnden Mädchen, die die Nacktheit ihrer Körper
nicht provozierend, sondern völlig natürlich zur Schau
stellten, geradezu erfrischend.
Die Darbietung näherte sich offensichtlich dem Ende.
Der Stier stand jetzt mit hochgerecktem Kopf und peitschendem
Schwanz am anderen Ende des Steinkreises. Sein stoßweise
keuchender Atem war bis zu unserer Gruppe herüber zu hören.
Ptah und Hilaeira stützten sich auf die Brüstung der Arena
und starrten schweigend das letzte Mädchen an, das aus der
Gruppe herausgetänzelt war und den Stier erwartete. Der Stier
spannte seine dicken Muskeln und warf sich nach vorn. Mit jedem
Sprung gewann er mehr Schnelligkeit. Dann senkte er den Kopf. Die
Spitzen der Hörner berührten das staubige, verwelkte Gras.
Er kam rasend schnell näher. Das Mädchen lief auf ihn zu,
breitete die Arme aus und streckte sie dann nach vorn. Der Stier
brüllte kurz und dunkel auf, hob den kantigen Schädel und
griff die Tänzerin an. Sie lief kurz vor dem Zusammenprall
einige flinke Schritte rückwärts, packte das Gehörn
kurz hinter den Spitzen und schnellte sich im selben Augenblick fast
senkrecht in die Luft, als der Stier seinen Nackenmuskel anspannte
und den Kopf hochriß. Ihr Körper streckte sich, rollte
sich zusammen und fiel auf den Rücken des Tieres. Der Stier
rannte in seinem kurzen Galopp weiter. Das Mädchen rutschte auf
dem schweißnassen Fell aus, versuchte sich festzuklammern und
ritt einige Sekunden lang verkehrt herum auf dem breiten Rücken.
Der Stier raste brüllend auf den Thron des Minoos zu, der sich
weit vorgebeugt
hatte und mit den Ringen an seinen Fingern spielte. Dann, einige
Handbreit vor der steinernen Zyklopenmauer, schwenkte das Tier herum
und warf in dieser Bewegung den Körper des Mädchens gegen
die Mauer.
Es gab einen schrecklichen Ton, ein trockenes Krachen, als sich
die kantigen Felstrümmer in das Fleisch bohrten. Der Kopf wurde
mit unwiderstehlicher Macht gegen eine messerscharfe Bruchkante
geschmettert. Das Mädchen schien eine kleine Ewigkeit lang
seitlich an der
Steinkante zu kleben, dann fiel ihr zerbrochener Körper ohne
Halt zu Boden. Die Tänzerin, deren Blut und Gehirn an den
Steinen klebten, hatte nicht einen einzigen Schrei ausgestoßen.
Im gleichen Augenblick handelte ich. Ich warf meinen Mantel von den
Schultern, nahm einen Anlauf und sprang auf die Mauer. Als die junge
Tänzerin starb, waren alle, die saßen, erschreckt
aufgesprungen. Jene, die standen, drängten sich näher an
den Ort des Unglücks heran. Ich sprang in die Arena hinein und
richtete, nachdem ich unbemerkt an die Ziernägel gegriffen
hatte, den rechten Arm mit dem breiten Lederarmband auf den Stier.
Die Tänzerinnen rannten auf ihre tote Freundin zu und
schrien. Der Stier lief im Zickzack weiter bis zur Mitte des Kreises,
wirbelte dort herum und griff mich augenblicklich an.
Ich blieb stehen und erwartete ihn ruhig.
Meine linke Hand fuhr zum Dolch, der getarnten Waffe. Dann rief
ich, so laut ich konnte:
„Das Orakel befahl mir, so zu handeln. Für Spiele
dieser Art wird keine Zeit mehr sein, wenn die Flutwelle kommt. Es
wird dann keinen Thron, keine Wiese, keinen Stier und keine
Tänzerinnen mehr geben."
Hinter mir erhob sich verwundertes Murmeln. Das Dröhnen der
Hufe wurde lauter, der Stier kam näher. Ich drückte auf
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