PR2607-Der Fimbul-Impuls
zu, wie die bloßen Füße bei jedem Schritt in den Sand sanken.
Die junge Frau stand nicht im Zentrum des Holos. In der Bildmitte ging die Sonne unter. Der ganze Horizont ein rotgoldenes Farbspektakel. Die Frau ging links. Durch die rechte Seite des Bildes lief ein Text: klare, unverschnörkelte Buchstaben.
Shanda Sarmotte las:
»Die güldne Sonne
voll Freud und Wonne
bringt unsern Grenzen
mit ihrem Glänzen
ein herzerquickendes, liebliches Licht.
Mein Haupt und Glieder,
die lagen darnieder;
aber nun steh ich,
bin munter und fröhlich,
schaue den Himmel mit meinem Gesicht.«
»Der Text ist aus einer altterranischen Sprache übersetzt«, erläuterte Huq, der sie ungestört hatte lesen lassen. »Er stammt von einem Mann, der vor etwa dreieinhalbtausend Jahren gelebt hat. Der Name wird dir nichts sagen. Paul Gerhard.«
Sarmotte nickte. Sie hatte diesen Namen tatsächlich noch nie gehört. Sie war zudem keine gebürtige Terranerin, sondern stammte von Aveda im Stardust-System. Vom anderen Ende des Universums.
Dort, in den Fernen Stätten, waren ihre Eltern in den goldenen Funkenregen geraten, wodurch sie, ihre Tochter, paranormal begabt worden war.
Als sie noch ein Kind gewesen war, vier oder sechs Jahre alt, hatte ihr Vater Jason abends an ihrem Bett gesessen und Gute-Nacht-Geschichten erzählt. Am liebsten war ihr immer das Märchen von den beiden Maries gewesen, von Goldmarie und Pechmarie.
Die Goldmarie hatte sie sich mit dem Gesicht und der Gestalt ihrer Mutter ausgemalt. Sie hieß Miranda, und von Miranda zu Marie war es ja kein weiter Weg.
Die verlorene Spindel, die Brunnenwelt, das quengelnde Brot im Ofen – und am Ende der Goldregen, der in Sarmottes Phantasie aus einer Art akonischem Torbogentransmitter auf ihre Mutter gefallen war.
Sich selbst hatte sie eher in der Rolle der Pechmarie gesehen. Sie hatte vergessen, warum.
Im Märchen hatte sich die Goldmarie den goldenen Regen verdient mit guten Taten oder jedenfalls einem guten Herzen.
»Und ihr?«, hatte sie später ihren Vater gefragt. Jason hatte gelächelt und mit den Achseln gezuckt. Womit hatten sie sich die goldenen Funken verdient?
»Vielleicht müssen wir das Gute erst noch tun«, hatte er vermutet. »Oder auf irgendeine Weise dafür bezahlen.«
Shanda hatte grünbraune Augen wie der Vater und das glatte braune Haar ihrer Mutter. Und das goldene Erbgut, für das beide den Preis bezahlt hatten. Ihre Eltern waren bei einem Unfall ums Leben gekommen, als Shanda keine 18 Jahre alt gewesen war.
Der Text im Holo lief weiter. Sie las:
»Menschliches Wesen,
was ist's gewesen?
In einer Stunde
geht es zugrunde,
sobald das Lüftlein des Todes dreinbläst.
Alles in allen
muss brechen und fallen,
Himmel und Erden,
die müssen das werden,
was sie vor ihrer Erschaffung gewest.«
»Das ist ein trauriger Text«, fand sie.
»Meinst du?«, fragte Huq. »Ja, du hast wahrscheinlich recht. Traurig ist er auch. Es kommt noch eine Strophe.«
Sie las:
»Kreuz und Elende,
das nimmt ein Ende;
nach Meeresbrausen
und Windessausen
leuchtet der Sonnen gewünschtes
Gesicht.
Freude die Fülle
und selige Stille
wird mich erwarten
im himmlischen Garten;
dahin sind meine Gedanken gericht'.«
Sie stellte keine Frage zu der jungen Frau im Holo, die endlos auf den Betrachter zukam, ohne ihn je zu erreichen.
Und Huq sprach sie von sich aus nicht an.
»Ich glaube, ich habe mich in der Sonne verirrt«, sagte Sarmotte. »Ich brauche genauere Informationen über den Stern.«
»Mach eine kurze astrophysikalische Hypnoschulung«, schlug Huq vor.
»Was, wenn ich gegen Hypnoschulungen allergisch bin?« Sie bot ihm ein Lachen an.
Er blieb ernst.
»Ich möchte die Informationen von dir haben.«
»Warum?«, fragte Huq. »Es sind etliche Solarphysiker an Bord.«
»Sagen wir: Du bist mir empfohlen worden.«
Er schüttelte unwillig den Kopf. »Was soll ich dir sagen?«
»Du musst nichts sagen. Ich möchte dich um Erlaubnis bitten, dir alle Informationen auf meine Art zu entnehmen.«
»Telepathisch«, sagte Huq. »Hm.«
»Ich gebe zu: Ich frage sonst nicht um Erlaubnis. Man hat mich ja auch nicht gefragt, ob ich Telepathin werden möchte.«
»Dein Vorbild ist wohl dieser Gucky? Das heißt: Du entnimmst mir die Informationen, ob ich will oder nicht.«
Sie betrachtete noch einmal die schöne Frau im Kubus. »Nein«, sagte sie. »Nicht, wenn du nicht willst.«
Huq zögerte. Schließlich sagte er: »Einverstanden. Woran
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