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Prickel

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Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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brauchen Publikum, sie fühlen sich in Hierarchien wohl, sie genießen die Machtausübung. Heilkunst interessiert sie einen Furz. Erstaunlich viele von ihnen sind bei der Wahl ihres Studiums nur um Haaresbreite an der Theologie vorbeigeschrammt. Es ist tatsächlich das gleiche Material, aus dem sich ein bestimmter Teil der Priesterschaft rekrutiert. Die späteren Bischöfe, wenn Sie mir folgen. Lebensziel: So hoch kommen wie nur möglich, mit dem Chefarzttitel als Minimum. Selbsteinschätzung: Allwissend, unfehlbar, vom ersten Tag an. Und genau so einer von diesen aufgeblasenen Kretins war Victor Blandette.« Er blickte finster ins Leere, kaum merklich vor sich hinnickend, während die Erinnerungen zurückkamen.
    »Victor Blandette. Ja. Kam aus einer Medizinerfamilie, wie so viele. Vater war Chefarzt, irgendwo. Selestat, glaube ich. Trotzdem kein Talent. Ungeheuer ehrgeizig, das war er, dabei faul. Kennen Sie ihn?« fragte er unvermittelt und warf mir einen lebhaften Blick zu. Ich nickte.
    »Sagen Sie mir, als was praktiziert er heute?«
    »Er leitet eine Klinik für forensische Psychiatrie in der Nähe von Düsseldorf.«
    »Psychiater also.« Er nickte, als wolle er sagen: Es hätte schlimmer kommen können. »Und Chefarzt, natürlich. Haben Sie eine Ahnung, was dieser imbecile ursprünglich werden wollte?« Seine Augen blitzten mich an. »Na, raten Sie. Denken Sie an ... Prestige!«
    Hm. Das war nicht schwer. Als was würde ich mich ausgeben . »Gehirnchirurg?« bot ich an.
    »Genau! Ha! Gehirnchirurg! Kann man sich den Friedhof hinter der Klinik ausmalen?« Er beschattete die Augen mit der Hand und reckte den Hals, wie ein Indianer, der den Blick über die Weiten der Prärie schweifen läßt. Wir mußten beide lachen.
    »Lassen Sie es mich so ausdrücken«, fuhr er nach einer kleinen Weile fort: »Victor Blandette könnte keine Wurst anritzen, ohne mit dem Messer auf der anderen Seite wieder rauszukommen!« Kopfschüttelnd goß er Tee nach und griff sich einen Keks.
    »Also«, meinte er abschließend, »wegen welcher Art von falscher Behandlung sind Sie hinter ihm her? Ersparen Sie mir allerdings die sicherlich grausigen Details.«
    Ich beugte mich vor. »Er hat einen Klienten von mir, Insasse in seiner Anstalt, mittels Psychodrogen binnen weniger Tage in ein hilfloses, schlotterndes Wrack verwandelt. Wahrscheinlich, so meine Mutmaßung, um ihn daran zu hindern, in eigener Sache auszusagen. Was ich zu verstehen, zu ergründen versuche, ist, warum.«
    Der alte Professor zuckte die Achseln. Was kommen Sie damit zu mir? schien seine Geste ausdrücken zu wollen.
    »Dazu sammle ich Informationen. Auch und gerade über die Person Victor Blandettes. So bin ich bei meinen Recherchen zum Beispiel darauf gestoßen, daß seine beiden Doktortitel aus den USA stammen, und das, obwohl er nie dort studiert hat. Wieso, frage ich mich da, hat er nicht hier, in Strasbourg, bei Ihnen promoviert?«
    »Gleich zwei Titel?« Professor Schaeffer ließ eine, seine linke, Augenbraue die halbe Stirn hochwandern. »Und beide aus den Vereinigten Staaten? Per Post, will ich meinen? Hmm, das sieht ihm ähnlich. Sehen Sie, Ihre Frage ist genau der Grund, warum ich mich an den Kerl überhaupt noch erinnere. Lassen Sie mich ein bißchen ausholen: Wer nach abgeschlossenem Studium die Doktorwürde anstrebt und, sagen wir, arm ist, aber fleißig und ehrlich, schreibt seine Dissertation selber. Wer reich ist und faul, läßt sie schreiben. Wer faul, aber geizig ist, stückelt sich eine aus bestehenden Dissertationen früherer Jahre zusammen. Die sind alle frei zugänglich. Und nur wer faul, geizig und obendrein impressionnant stupide ist, läßt sich dabei erwischen.« Sein Blick suchte den meinen, fragend, ob ich soweit mitgekommen war. Ich signalisierte ein >Ja< und fühlte mich, wie eine ganze Zeitlang schon, eigentümlich in meine Schulzeit zurückversetzt.
    »Unserem Kandidaten, also, war sogar das Zusammenstückeln zu mühsam. Dazu hätte eine Menge Material gesichtet, sondiert, hätten Nahtstellen geglättet und verschiedene Schreibstile aneinander angeglichen werden müssen. Nein, das war ihm zu beschwerlich. Er hat seine Arbeit deshalb praktisch komplett übernommen und abgeschrieben. Nur die Einleitung hat er wohl selbst verfaßt und den Schluß ein wenig verändert. Der Rest stammte Wort für Wort, Zeile für Zeile, zu einhundert Prozent von David Bovet.« Er nickte zufrieden, als sagte das alles. Was es nicht tat. Nicht mir,

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