Prickel
verdüsterte den rechten oberen Rand des Rahmens.
»Sagen Sie nichts! Das geht Sie nichts an! Kommen Sie, kommen Sie weiter.« Sein Deutsch war makellos, akzentfrei. Ich machte eine entsprechende Bemerkung.
»Aber Ihres nicht«, gab er gleichgültig zurück. »Ruhrgebiet, habe ich recht?« Ich nickte.
»Ich bin Elsässer«, sagte er, »und alt.« Wir traten hinaus in den Garten. Vögel piepten, Bienen summten. »Ich war zweimal in meinem Leben Deutscher und bin jetzt das dritte Mal Franzose.« Der Garten war ein Traum. Wild-, Über- und Zugewuchertes grenzte an ordentlich geharkte Beete, alte Obstbäume und Sträucher machten weiter hinten einer sanft geschwungenen Blumenwiese Platz, durch die sich ein träger, tiefer, kühl und klar aussehender Bach schlängelte. »Ich habe auf deutscher und auf französischer Seite gekämpft, ich habe auf deutsch und französisch unterrichtet, ich weiß bei Länderspielen bis heute nicht, zu wem ich halten soll.«
»Der Garten ist ein Traum«, sagte ich.
»Alles eine Frage des Komposts«, meinte er sachlich.
»Kommen Sie, kommen Sie, ich zeig's Ihnen!« Er führte mich um einen kleinen Schuppen herum und deutete voller Stolz auf einen Misthaufen, wie man ihn sich gewöhnlicher kaum vorstellen kann. Braun, haufenförmig, ganz leicht dampfend, mehr als nur ganz leicht miefend, dekoriert mit Kringeln von Kartoffelschale.
»Pferdemist, Kuhmist«, fing der Professor an, aufzuzählen, »Hühnermist und Hasenkötel, Garten- und Küchenabfälle. Einmal die Woche gewendet, und man kriegt einen Kompost, mit dem einfach alles wächst! Hier kommen Sie! Fühlen Sie mal, wie warm der ist! So lieben es die Würmer! Da ist richtig Leben drin! Hier, schieben Sie mal Ihre Hand hinein!«
Ich schenkte ihm einen etwas, na, skeptischen Blick.
»Sie wollen im Ernst«, fragte ich, »daß ich meine Hand in einen Haufen Haustierscheiße, Müll und Würmer stecke?«
Er schnalzte verächtlich und machte es vor, griff sich eine Handvoll und ließ sie zerkrümelt auf den Haufen zurückrieseln. »Man merkt, daß Sie kein Mediziner sind«, meinte er. »So empfindlich! Was glauben Sie, in was man als Medizinstudent so alles seine Finger stecken muß! Sagt Ihnen das Wörtchen >Dekubitus< etwas?«
»Ja«, sagte ich und schmeckte Raststättenrührei, hinten im Hals, zusammen mit ein wenig Galle. Und, auf seinen leicht überraschten Blick hin: »Ich habe einen Teil meines Zivildienstes im Krankenhaus abgerissen.«
Bis sie mit dem Nachfüllen des Giftschranks nicht mehr nachkamen.
»Und den Rest?« fragte er, spöttisch, wohl annehmend, ich sei den Härten des Klinikalltages nicht gewachsen gewesen.
»Bei >Essen auf Rädern<.«
Bis sie mit dem Nachkaufen von Autos nicht mehr nachkamen. Weil ich eines pro Woche zu Klump fuhr.
»Na, egal. Kommen Sie«, sagte er und wandte sich ungeduldig zum Gehen. »Wir setzen uns auf die Terrasse, und ich mache uns einen Tee.«
Professor - oder Ex-Professor, wie dem auch sei - Schaeffer goß Tee in zwei Becher und riß eine Packung Kekse auf, die er zwischen uns stellte, ehe er sich in seinen Korbstuhl fallen ließ und einmal tief Luft holte. Ich spürte, daß ein kleiner Vortrag anstand, nahm einen Keks und sperrte meine Lauscher auf.
»Victor Blandette«, begann er, »war genau die Sorte von Student, wie ich sie mein Leben lang gehaßt habe.«
Er legte die Hände in den Nacken und schloß halb die Augen.
»Wissen Sie, die Leute wenden sich aus sehr unterschiedlichen Gründen der Medizin zu«, fuhr er fort. »Da gibt es die Idealisten mit dem Helfer-Syndrom, die allen Ernstes glauben, mit dem Stab des Äskulap gegen das Elend dieser Welt ankämpfen zu können. Gehen gerne nach Afrika, um sich erst einen Kulturschock und kurz darauf irgend etwas Unheilbares einzufangen.« Er lachte kurz und trocken und nahm einen Schluck Tee. »Dann gibt es die Pragmatiker, die sich sagen, ich zieh das Studium jetzt durch und habe anschließend einen Beruf, der mir alles zwischen einem lebenslangen, halbwegs vernünftigen Auskommen bis hin zu einem ausgesprochen flotten Lebensstil zwischen Behandlungsstuhl und Golfplatz einbringen kann.« Er sah mich an. »Ihr Zahnarzt ist so einer«, sagte er und lehnte sich wieder zurück, »und meiner auch.«
»Und dann«, seufzte er, »haben wir die Berufenen. Die, die schon zur ersten Vorlesungsstunde im weißen Kittel erscheinen und daheim vor dem Spiegel gravitätisches Schreiten üben. Die sehen im Arztberuf vor allem den Nimbus. Sie
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