Prickel
weit draußen vor der Stadt, als ich das St. Christopherus-Asylum endlich fand. Umgeben von sonnenbeschienenen Äckern, Wiesen und Feldern auf sanften Hügeln und halb verborgen hinter einem Park mit wunderschönen alten Bäumen, stellte es sich als ein riesiger, häßlicher, dreckig-dunkelgrauer alter Kasten mit Giebeln, Zinnen und vergitterten Rundbogenfenstern heraus, der in dieser blühenden Landschaft wirkte wie eine SchwarzweißSequenz mitten in einem Farbfilm, so daß man gleich weiß: Aha, das war damals.
Ich rollte durch das offene, schmiedeeiserne Tor und eine Platanenallee hinunter darauf zu, kämpfte mit meinem Widerwillen und fragte mich, was es wohl mal gewesen war, dieses Monstrum im Park, damals, zur Zeit seiner Erbauung.
Auf dem gepflasterten Platz davor stoppte ich kurz ab und sah an der dreigeschossigen, düsteren Fassade hoch. Nichts als von den Jahren geschwärzter Zementputz und Gitter, überall Gitter. Es sah nicht aus wie ein ehemaliger Gutshof, und es sah auch nicht aus wie ein ehemaliges Schloß. Es sah schlicht und einfach aus wie eine mindestens hundert Jahre alte Irrenanstalt, und man konnte sich nicht vorstellen, daß es jemals einem anderen Zweck gedient haben könnte. Was man sich dagegen lebhaft vorstellen konnte, waren hundert Jahre Anstaltsleben mit ihren willkürlich wechselnden Doktrinen, waren Zwangsjacken, Lederriemen, kalte Bäder, Tiersedativa, waren Psychodrogen und Elektroschocks, waren allem Menschlichen beraubte Schreie, waren weiße Kittel und schwarze Uniformen und die Leichenberge der Euthanasie.
Mag sein, meine Phantasie ging ein wenig mit mir durch, doch ich hatte in meinem Leben noch kein bedrückenderes Gebäude gesehen.
Trotz unserer warmen Mäntel waren wir durchgefroren, als wir endlich an dem düsteren alten Mietshaus, ankamen, in dem Nina wohnte. Wir hatten mehrmals Leute nach dem Weg fragen müssen, und es war noch ein ganz schöner Fußmarsch gewesen von der letzten Bushaltestelle bis hierher. Es war das letzte Haus in einer schlecht beleuchteten Sackgasse. Ich trampelte mit den Füßen im Stand, während Det mit dem Feuerzeug die Klingelknöpfe ableuchtete, und ich wünschte, ich wäre in Mülheim geblieben.
Der Türdrücker summte, und Det scheuchte mich hinein. Er wirkte furchtbar aufgeregt, wie ein Kind kurz vor der versprochenen Großen Überraschung.
Das Treppenhaus erinnerte mich schwer an zuhause. jede zweite Birne war kaputt, und der Geruch nach billigem Bratfett war praktisch derselbe. Nina wohnte ganz oben, und Det trieb mich vor sich her die Stufen hoch.
Nina hielt die Türe offen, und die Türe hielt sie auf den Beinen. Sie wirkte alles andere als nüchtern.
»Nanu, Det, du auch dabei?« fragte sie undplinkerte leicht überrascht mit den Augen. Det nahm sie beiseite und raunte ihr etwas zu, was ich nicht mitbekam, Nina aber zum Lachen brachte.
»Na, dann man rein in die gute Stube«, meinte sie.
Ein Schild wies mich zum Besucherparkplatz. Er war leer. Rund zwanzig Fahrzeuge hätten draufgepaßt, doch ich hatte die absolut freie Wahl unter den Stellplätzen. Entweder bekamen die Insassen hier nicht besonders viel Besuch, oder aber die Zeit dafür war beschränkt und für heute vorbei.
>Oh ihr meine Götter, laßt es so sein<, bat ich inständig. >Denkt immer dran, morgen ist auch noch ein Tag!<
Ich stellte die Carina wahllos in eine Bucht, mit der Nase zur Mauer. Der Park, so sah es aus, setzte sich auf der Rückseite der Anstalt nicht weiter fort. Hier an der Mauer war Schluß. Dahinter erstreckte sich, wenn mich meine botanischen Kenntnisse nicht trogen, ein Kartoffelacker bis in die blaue Ferne. Oder Rüben. Getreide, da war ich mir sicher, war es auf alle Fälle nicht.
Von meinen Fluchtinstinkten wie an straffen Zügeln zurückgehalten kämpfte ich mich zur Pforte. Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger wußte ich, was ich hier sollte. Einen Insassen interviewen, der im Umgang so schwierig war, daß man, wie Veronika gesagt hatte, >extrem viel Geduld< mitbringen mußte. Extrem viel Geduld.
Wie hatte sie da nur auf die Idee verfallen können, ausgerechnet mich hier rauszujagen? Jeder, der mich nur ein bißchen kennt, weiß, daß ich überhaupt keine Geduld habe. Nicht umsonst verbrenne ich mir jeden Morgen an der Kaffeetasse die Fresse. Jeden Morgen! Hm. Sehr wahrscheinlich hatte sie keinen anderen Blödmann gefunden.
>Besuchszeiten: 14:00" bis 18:00", nach Vereinbarung<, stand da.
Nach einem Blick auf die Uhr
Weitere Kostenlose Bücher