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Prickel

Prickel

Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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Glück, ein dehnbarer Begriff. Zwischen >geduldig an der Kinokasse um eine Karte anstehen< und >in Meditation und Askese seit siebenundzwanzig Jahren geduldig die Reinkarnation des Kama Rimputscheh erwartend< liegen viele, kleine, schwer zu definierende Abstufungen.
    »Det«, preßte er schließlich hervor. Mit Nachdruck. Ich sah ihm in die braunen Kuhaugen.
    »Allein?« fragte ich. Die Frage einer möglichen Mittäterschaft schien mir so abwegig nicht zu sein. Roselius' Atem ging schwer. Abwegig oder nicht, die Frage machte ihm zu schaffen.
    >Schachspielersyndrom?< hatte ich gefragt. Vogel hatte mir seine Theorie erklärt. Wie so manches andere, was er gesagt hat, kam auch sie mir zu meinem eigenen Erstaunen überhaupt nicht spinnert vor. Sie ging so: Gute Schachspieler versuchen immer einen, zwei, wenn's geht noch mehr Spielzüge vorauszudenken. Dabei multiplizieren sich die Möglichkeiten von Zug und Gegenzug mit jedem Schritt in einer unglaublichen Masse. Wer sich da wirklich hinein vertieft, muß aufpassen, daß er sich nicht in den eigenen Hirnwindungen verläuft und schließlich nur mit Hilfe starker Beruhigungsmittel wieder herausfindet.
    Roselius hatte, wie es schien, dem in gewisser Weise ähnelnde Schwierigkeiten im Umgang mit Sprache. Aussagen, ihre Wirkungen und die zahllosen Möglichkeiten, umzuformulieren, und sei es nur, um nicht falsch verstanden zu werden, ließen vor jedem noch so einfachen Satz einen kleinen Wirbelsturm durch sein Gehirn fegen. Wie bei einem Mülheimer, den ein verzweifelter Autofahrer nach dem kürzesten und einfachsten Weg aus der Stadt gefragt hat. Wenn man weiß, daß es weder einen kurzen, noch gar einen einfachen Weg gibt, dafür aber zehntausend Chancen, sich heillos zu verfahren, kann einen die Suche nach der Antwort ganz leicht traumatisieren. »Ja.«
    Äh, was war noch die Frage gewesen? Vogel hatte mich darauf hingewiesen, daß Bernd manchmal erst zu Potte kommt, wenn der Fragende schon wieder vergessen hat, was er hatte wissen wollen. Doch ich kam drauf: Allein, darum war's gegangen. Allein also. Schön. Jetzt kam was Schwereres:
    »Wer ist Det?«
    Roselius keuchte. Seine Stirn glänzte. Er hielt den Blick auf den graugestrichenen Boden gesenkt, um sich nicht ablenken zu lassen. Man spürte, was für eine Anstrengung es ihn kostete, etwas Ordnung in den Wust seiner Gedanken zu zwingen.
    Die Frage, ging mir auf, war aber auch ein bißchen unglücklich formuliert.
    >Füdeldidü<, machte es draußen auf dem Gang.
    Ich überlegte, wie es sich anders ausdrücken ließe.
    Ich hörte Pfleger Weber mit jemandem reden.
    Roselius sah aus, als ob ihm gleich eine Arterie platzen wollte. Beschwichtigend hob ich die Hand, winkte ab. Ich sagte: »Neue Frage: Hat Det einen zweiten Namen? Einen Nachnamen?«
    Ja, das war besser. Roselius schob die Brauen zusammen, biß auf seine Unterlippe. Mechanisch griff ich nach meinen Zigaretten. Das Warten machte mich kribbelig. Ich warf Roselius einen Seitenblick zu. Hatte er nun etwas gegen das Rauchen, oder nicht? Er beachtete die Zigarette in meiner Hand gar nicht. Ließ sich auch vom Feuerzeug nicht ablenken. Statt dessen machte er den Mund auf, schien jeden Augenblick mit der Antwort herausrücken zu wollen. Plötzlich vergaß ich das Rauchen. Ich ertappte mich dabei, daß ich wie gebannt auf diesen Mund starrte.
    Draußen vor der Zellentüre näherten sich Schritte. Bloß jetzt keine Störung!
    Spuckte der Mund gleich einen Namen aus? Den Namen eines Mörders? Mein Herz klopfte.
    »Nnn-«, machte der Mund, und ich hielt Block und Stift in Händen, ohne den Vorgang des Hervorkramens mitgekriegt zu haben, »- Nnn -«, da flog die Zellentüre auf, Weber dröhnte: »Zeit für die Behandlung, Prickel!«, und der Mund vor meinen Augen öffnete sich, wie in Zeitlupe, synchron mit den beiden Augen, alles weitete sich zu einer Grimasse puren Entsetzens, und dann kam dieser Schrei, von ganz, ganz weit unten herauf, von da, wo das wirkliche Grauen sitzt: »NEIIINNNNN!«
    Ich zitterte am ganzen Leib. Ich schlotterte förmlich. Ein fleischiger Pfleger namens Neuhaus führte mich am Arm den Gang hinunter Richtung Ausgang, der gleiche, übrigens, der verhindert hatte, daß ich Pfleger Weber an die Gurgel ging, und ich wußte sowenig wohin mit meiner Wut, daß es mich durchschüttelte wie einen Reaktor, der knapp vor dem Bersten steht.
    Der riesige Patient mit den stechenden Augen lauerte wie immer mitten im Weg, doch ein Blick von mir genügte, und wir

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