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Prickel

Prickel

Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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belebten Wald, wo einem vor Starren und Lauschen der Kopf platzen möchte und einem die Angst und Unsicherheit die Innereien abschnüren, wo einen jeder knackende Ast zusammenzucken läßt und jeder zweite Busch aussieht wie eine schlau getarnte Sondereinheit, wo man am liebsten geräuschlos dahinschweben und allmählich unsichtbar werden möchte, machte Roselius plötzlich den Mund auf. Das erste Mal, heute.
    »Ich find das gar nicht«, sagte er laut und machte mich damit hopsen vor Schreck, »prickelnd«, sagte er. Wir warteten einen Moment, doch mehr sagte er nicht.
    Irgendwann hörte der Regen auf. Irgendwann auch der Wald. Überflüssig, zu sagen, daß auch die Nacht sich nicht ewig halten würde. Doch noch war es dunkel, der Morgen nichts als ein Hauch von Licht am östlichen Horizont. Ich sah auf die Uhr. Halb fünf. Seit zwei Stunden tappten wir jetzt durch die Gegend. Zwei Stunden, die dabei waren, meinen ohnehin schon unmöglich knapp gestrickten Zeitplan in rasendem Tempo vom Saum her aufzuribbeln. Und noch war kein Ende in Sicht. Ich biß auf meinen Nägeln herum wie seit der Pubertät nicht mehr.
    Links und rechts des Weges erstreckte sich Stacheldraht. Weidezäune. Wir näherten uns menschlichen Behausungen.
    Bis hierhin war alles glatt verlaufen. Keine Treiberstaffeln, keine Hundemeuten, keine Lichtfinger von Suchscheinwerfern, keine Lautsprecherkommandos, keine Warnschüsse. Zu glatt, vom Gefühl her, doch war ich nicht in der Stimmung, mich darüber zu beklagen.
    Wir kamen über eine kleine Kuppe und sahen eine Reihe Laternen. Eine Straße. Ah! Asphalt statt Wurzelwerk. Was für eine Verlockung. Dahinter eine Menge Lichter. Ein Ort. Ab jetzt, das war uns klar, wurde es wirklich interessant. Mittlerweile dürfte der G gelöscht sein und die Fahndung draußen. Auf vollen Touren, trotz der ungastlichen Stunde, da brauchten wir uns gar nichts vorzumachen.
    Mitten in der Nacht den Wald zu durchkämmen hatten sie sich verständlicherweise geklemmt. Wozu auch? Wir würden schon irgendwann herauskommen. Und zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf dem Bauch durch das dickste Gebüsch robbend, sondern einem Weg, einem Pfad, einer Feuerschneise, einem Wildwechsel, einem Bachlauf folgend. Irgendwoher halt, wo einem nicht pausenlos die Zweige in die Fresse klatschen.
    Und wenn ich der Fahndungsleiter wäre, hätte ich inzwischen an jedem Ausgang, und sei es nur eines Karnickelpfades, ein paar Männer im Kampfanzug postiert. Gingen wir weiter in dieser Richtung, befanden wir uns meines Erachtens nach auf dem direkten Weg in die Falle. Flüsternd tauschten wir unsere Ansichten aus. Na ja, Charly und ich. Prickel - da, jetzt fange ich auch damit an - Roselius also stand dabei und schwankte leicht, mit flatternden Lidern. Er sah so aus wie ich mich fühlte: Als ob ich jeden Augenblick im Stehen einschlafen könnte.
    »Ihr bleibt hier«, flüsterte Charly schließlich. »Ich schleich mich mal nach vorn und sondiere die Lage.«
    »Laß deinen Rucksack hier«, sagte ich, doch er schüttelte nur den Kopf und huschte davon. Wenn sie ihn packten, dachte ich, mit einer abgesägten Pumpgun im Gepäck, könnten sie auf den Gedanken kommen, daß mein Klient und ich ähnlich ausgerüstet herumschlichen. Macht ihnen furchtbar zittrige Abzugsfinger, den Bullen, so ein Gedanke.
    Nur zwei Minuten später schon war Charly zurück, leicht außer Atem, leicht außer Fassung.
    »Zehn Mann«, sagte er. »Schwer bewaffnet. Bundesgrenzschutz. Mit einem Panzerwagen. Jesus. Als hätten wir die komplette RAF befreit. Und nicht Öttes hier. Die halten jeden an und kontrollieren die Papiere. Da kommen wir nie vorbei.«
    Wir sahen uns an. Der Himmel im Osten errötete sacht. Vögel begannen zu zwitschern. Die Morgenluft war nach dem Regen wundervoll frisch und angenehm kühl, voller Düfte.
    Genieß es, riet ich mir. Wenn du nicht in spätestens eineinhalb Stunden wieder in Oberhausen bist, ist das hier für die nächsten zehn Jahre dein letzter Morgen in Freiheit.
    Ohne ein weiteres Wort halfen wir uns gegenseitig über den Stacheldrahtzaun. Schlichen uns über eine Wiese. Erklommen den nächsten Zaun. Noch eine Wiese. Ließen uns durch ein Gatter. Tappten durch einen Sandplatz voller Pfützen und Pferdeäpfel. Fanden uns vor einem mannshohen Maschendrahtzaun wieder. Dahinter erstreckten sich Rasenflächen, gepflasterte Wege, blühende Büsche und Beete, einzelne und in Grüppchen zusammengefaßte Bäume, Drahtstühle und Holzbänke,

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