Prickel
Skulpturen und Vogeltränken. Inmitten all dieser Idylle erhob sich ein Monstrum. Zehn Etagen Glas, Aluminium und Kunststoff auf L-förmigem Grundriß, mit einem hohen, schlanken, chromglänzenden Kamin, auf dem oben eine rote Lampe rotierte, mit eigener Küche, eigenem Parkhaus, eigenem Hubschrauber, brummend, summend, vibrierend rund um die Uhr. Ein Krankenhaus.
Es war wie ein Kick. Der berühmte zweite Atem kam über mich. Ich kramte eine Zange aus meiner Reisetasche, bückte mich, kniff einmal unten durch das Geflecht, folgte der Kunststoffummantelung mit dem Finger hoch und kniff das obere Ende durch. Dann drehte ich das lange, zickzackförmige Stück Draht nach oben heraus und schon ließ sich der Maschendraht wie ein Vorhang teilen und links und rechts zur Seite schieben. Das ganze hatte keine sechzig Sekunden gedauert. Ich hab mal Einbrecher studiert wie andere Leute Religionswissenschaften.
»Und jetzt?« fragte Charly.
»Gib mir deinen Rucksack«, sagte ich. Eins war mir gerade klargeworden: Dies hier stellte meine letzte Chance dar. Ich war entschlossen, sie zu nutzen, mit allem, was ich noch aufzubieten hatte.
Der Osten wurde hell und heller, doch die Schatten im Park waren noch tief. Und mochte die Küche auch klirren und scheppern vor frühmorgendlicher Aktivität, so lag der Rest des Hauses doch noch in mehr oder weniger süßem Schlummer.
Nach all dem heimlichen Herumgeschleiche der letzten Stunden mußten wir uns zwingen, normal zu gehen und normal zu sprechen. Nur drei Pfleger auf dem Weg zur Schicht.
Bei einer heckenumstandenen Parkbank ließ ich die anderen beiden warten. Hab ich schon mal erwähnt, daß ich einen Teil meines Zivildienstes im Krankenhaus abgeleistet habe? Eine unvergeßliche Zeit. Noch heute braucht nur jemand in meiner Nähe >Dekubitus< zu raunen, und ich schmecke Reste meiner letzte Mahlzeit ganz oben im Hals, zusammen mit ein bißchen Galle. Ließ sich nur zugedröhnt ertragen, das ganze Elend. Ja, so gesehen hatte mich mein Zivildienst erst richtig auf den Weg gebracht, drogenmäßig. Pillen, Tropfen, Zäpfchen, Injektionsampullen - alles war ohne großes Theater zugänglich, hatte man sich erst einmal mit dem ganzen Apparat vertraut gemacht.
Ab einer gewissen Größenordnung sind sich diese Anstalten äußerst ähnlich. Die Eigentümlichkeiten der Aufteilung in verschiedene Schichtdienste, Stationen und Abteilungen machen es möglich, daß sich ein Teil des Personals völlig fremd ist. Jemand mit dem richtigen Auftreten könnte, da bin ich mir sicher, sich in jedem der größeren Häuser frei bewegen, frei verpflegen, regelrecht wohnen, leben, ja praktizieren, ohne daß es irgend jemand in den Sinn käme, sein Tun zu hinterfragen. Wenn der oder die Betreffende dann noch ein wenig Geschick im Umgang mit Computern hätte, ließe sich wahrscheinlich sogar ein Gehalt arrangieren.
Die Hintertür, durch die ich mich einließ, führte in die Katakomben der Kellergänge. Kein Patient kriegt sie je zu Gesicht. Denn die, die es doch hierher verschlägt, sind jenseits aller Wahrnehmung.
Die Wäschekammer fand sich so ziemlich genau da, wo ich sie vermutet hatte. Es braucht nichts als einen weißen oder grünen Kittel, aus dessen einer Tasche der Drahtbügel eines Stethoskops ragt. Fertig. Ein um den Hals baumelnder Mundschutz ist ein Extra, kein Muß. Soll der so gewonnene Effekt allerdings nicht leiden, sollte man unter dem Kittel, wenn möglich, ein paar Klamotten tragen, die nicht aussehen, als seien sie eben erst einem Verschütteten vom Leib gezogen worden.
Nein, ich konnte nicht widerstehen. Soviel Zeit mußte sein. Ich stieß die Türe zur Küche auf und schritt mit wehendem Kittel hinein, als gehöre der ganze Laden mir. Ich hatte mich für die hellgrüne OP-Kluft entschieden, weil die mehr hermacht und man obendrein so ein Mützchen dazubekommt, unter dem man sein Haupthaar verstecken kann.
»Seid doch so süß und stellt mir eben zwei Kannen Kaffee auf ein Tablett«, sagte ich zu der erstbesten Köchin oder Küchenhilfe, auf die ich traf. »Und packt mir noch ein paar von den belegten Brötchen dazu, ja? Und huschhusch, wenn ich bitten darf. Ich hab nur zwei Minuten!« Aah, was für ein Service! Gleich drei Frauen in geblümten Kittelschürzen rissen sich förmlich darum, mich zu bedienen. Die mit den spitzesten Ellbogen schaffte es schließlich, das Tablett zu ergattern und eiligst zu mir rüberzutragen. Als sie es jedoch vor mich hinstellte, sah sie plötzlich
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