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Prickel

Prickel

Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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schon!« sagte der mit den Knöpfen auf der Schulter hastig. Er klang plötzlich nicht mehr ganz so stoisch. »Nun fahren Sie schon weiter!« Ein Handzeichen, und vor uns tat sich eine Gasse auf. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt.
    Hrmmm! machte der Motor.
    Haa-ooo-uuu-hiii! machte die Sirene.
    Knck! machte der Kickdownknopf unter dem Gaspedal.
    Unter hysterischem Geheule jagten wir in die Morgendämmerung hinein. Ich fuhr wie im Rausch. Wie im Vollrausch. Zumindest bis mir einfiel, die Brille in die Stirn zu schieben.
    Charly beugte sich stöhnend in seinem Sitz nach vorn, die Arme gegen den Bauch gepreßt, krampfhaft wippend. Für einen Moment dachte ich, er leide Schmerzen, sei in einer Weise verletzt, die mir bis dahin entgangen war. Bis mir aufging, was er hatte. Es war etwas Ansteckendes.
    »Oh verdammt«, brach es schließlich aus ihm heraus.
    »Er entgleitet mir!« Wir sahen uns an. Ich nahm die Brille wieder runter. Wir wieherten los. Wie unter Zwang.
    »Sein Puls! Ich spür seinen Puls nicht mehr!« Charly machte eine pumpende Armbewegung, und die Tränen schossen mir nur so aus den Augen.
    »Wir werden einen -« ich gab dem Lenkrad eins mit der Faust, daß es die obere Hälfte ein Stück abknickte - »einen Luft- einen Luftröhrenschnitt -« ich brach ab, es hatte keinen Zweck.
    »Nun fahren Sie schon! Nun fahren Sie schon weiter!«
    Wir heulten mit der Sirene um die Wette.
    »Ich find das« - kam es leicht beleidigt von hinten, - »gar nicht prickelnd!!« stimmten wir brüllend mit ein, und bei Gott, um ein Haar, und wir hätten uns bepißt vor Lachen.
    »>White Zombie<, cool«, fand Patsy. Sie stand mit verwuscheltem Haar und nicht viel mehr als einem Männerunterhemd bekleidet in der Türe und bewunderte unser Bernd sein neu' T-Shirt, während ich noch das Treppengeländer umkrampfte. Wir waren die fünf Etagen hochgehastet, in einem Affenzahn, und ich erwartete jetzt jede Sekunde einen massiven Hirnschlag als Quittung dafür. Ich linste auf die Uhr. Mir blieben rund zwanzig Minuten. Ich drückte Patsy mein Bündel in die Hand. Keuchend, hustend, spuckend bat ich sie, die Sachen für mich zu waschen und zu trocknen und um Gottes Willen nicht länger als fünf Minuten dafür zu brauchen. Ohne auch nur einen fragenden Blick schnickte sie dem verschlafen in seinem Morgenmantel herumstehenden Scuzzi, ihr zu helfen, und die beiden verschwanden im Bad. Ich zog derweil meine Schuhe und meine Pflegerhose aus. Brille und Kittel hatte ich im Krankenwagen gelassen, den Charly jetzt irgendwo unauffällig abstellen wollte. Nur das Stethoskop hatte ich behalten. Das ist so die Art von Souvenir, die einem aus einem verstaubten Pappkarton entgegenlächelt, wenn man nach zehn Jahren aus dem Bau entlassen wird. Oder wenn sie einem wieder mal die Wohnung gekündigt haben und man seinen Krempel in eine andere Hütte verfrachten muß, wieder ein paar Quadratmeter kleiner und wieder ein Fenster weniger, auf dem unausweichlich abschüssigen Weg hinunter in die enge und gänzlich fensterlose Kiste, die uns letzten Endes alle erwartet.
    Alles umsonst. Dieses Gefühl beherrschte mich. Ich würde es niemals schaffen. Der Minutenzeiger meiner Uhr raste nur so über das Zifferblatt. Niemals.
    Roselius hatte sich auf die Couch gesetzt. Er schloß die Augen. Einen Ruck meines Minutenzeigers später begann er sachte zu schnarchen. Ich beneidete ihn einigermaßen. Doch nicht sehr. Er sah verdammt mitgenommen aus.
    Zora hatte ihren Wecker gestern Abend auf sechs gestellt. Punkt sechs. Ich hatte ihr scharf über die Schulter gesehen dabei.
    Sie wohnte dritte Etage, hoch genug, um mir den Atem zu rauben und dafür einen wild galoppierenden Puls zu schenken. Ich sah nicht mehr auf die Uhr, funktionierte nur noch, wie ferngesteuert, ohne nachzudenken. Mit übermenschlicher Anstrengung bekam ich meine vor Nervosität und Erschöpfung wild schlackernden Gliedmaßen weit genug unter Kontrolle, um den Schlüssel ins Schloß zu bugsieren und beinahe geräuschlos die Wohnungstüre aufzusperren. Drinnen war alles dunkel, alles ruhig. Ich hing den Schlüssel wieder an seinen Haken, riß mir die halbwegs sauberen und tatsächlich sogar halbwegs trockenen Plörren vom Leib, warf sie in die Gegend, schlich mich auf Zehenspitzen zum Bett, ließ mich unendlich vorsichtig darauf nieder und zupfte mir ein Stückchen Decke über den Balg. Zora atmete tief, ruhig und gleichmäßig. Mein Atem ging wie rasend und wollte und wollte sich nicht

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