Priester des Blutes
Götter verfluchen. Mere Morwenna sah sie unverwandt an. »Erfüllt mir meine Bitte! Ich habe in meinen Träumen solch schreckliche
Schatten gesehen, dass ich nicht glauben kann, es seien Fieberfantasien.«
Mere Morwenna hob ihren Gehstock in die Höhe, als handelte es sich dabei um einen Zauberstab. Ungestüm drohte sie Alienora damit. »Denkst du, du könntest einfach herkommen und verlangen, in die Riten der Göttin eingeweiht zu werden? Denkst du, du könntest eines Tages bloß entscheiden, dass dir deine Religion nicht ausreichend Belohnungen einbringt? Denkst du, du könntest dein Schicksal nur durch Magie abwenden? Und wenn du dies geschafft hast, wenn du dein Problem gelöst hast, wirst du dann nicht zu deiner sicheren Schwesternschaft der Ignoranz und des Vorurteils zurückkehren und in Einer Grotte leben, die einst Einer großen spirituellen Führerin unseres Volkes heilig war, derer sich nun aber ein erobernder Gott bemächtigte? Denkst du, diese Statue, die du anbetest, gehört zu deiner Religion? Es ist eine uralte Statue aus schwarzem Stein, und obwohl du glaubst, es handle sich dabei um eine eurer zahlreichen Marias, so ist es in Wahrheit etwas völlig anderes. Etwas, das dir eine Gänsehaut bereiten würde, mein liebes fehlgeleitetes Kind!«
Alienora trat zwei oder drei Schritte in dem hohen Gras zu rück, entgeistert durch den Zorn in der Stimme der weisen Frau.
Durch die Hirschhaut an der Türöffnung tauchte jetzt jedoch jemand auf. Es war das Wechselbalg, Calyx, das inzwischen zu einem jungen Mädchen herangewachsen war. Noch immer trug sie einen Umhang und einen Schleier, und nur ihre Augen waren zu sehen. Sie hinkte leicht, als sie zu Mere Morwenna trat.
»Großmutter«, sagte Calyx, und ihre Stimme klang erwachsener, als es zu ihrem Alter eigentlich gepasst hätte. »Hör ihr zu. Auch ich habe Träume wie diese. Es ist ein Zeichen. Die Zeit der Schatten ist nah.«
»Ein Zeichen der Vernichtung«, erwiderte Mere Morwenna.
Das Mädchen achtete nicht auf seine Großmutter und ging an
ihr vorbei zu Alienora. Sie nahm deren Hand in ihre eigene und zog sie an ihr Gesicht. »Du bist auf deinem Weg«, sagte sie. »Du träumst vom Falkner?«
Alienora nickte.
»Er ist verloren«, erklärte Calyx. Dann sagte sie zu Mere Morwenna: »Es ist ihre Bestimmung, unter uns zu leben. Es ist Teil ihrer Reise. Du weißt, du kannst das, was sein soll, nicht aufhalten, gleichgültig, wie sehr du es dir wünschst, denn es wird mit dreifacher Vergeltung auf dich zurückfallen.«
Dann wurde ihre Stimme weicher, als sie Alienoras Hand losließ. Alienora blickte auf ihre Handfläche, als wäre sie besudelt worden. »Du wirst dich uns in der Nacht an schließen, die du Lammas-Abend nennst, auch wenn es eine besondere Nacht von Lugh 11 , dem Herrn der ersten Ernte, ist. Jemand wird in dem Wäldchen jenseits der Grotte zu dir kommen. Er wird eine Maske tragen, und du darfst nicht mit ihm sprechen. Nachdem er dir die Augen verbunden hat, wird er dich auf sein Pferd heben, und du wirst mit ihm zu unserem Fest reiten.«
Calyx hob die Hand und berührte Alienoras Stirn. Sie ließ ihre Hand für einen Augenblick dort liegen und drückte ihre Finger gegen die Kopfhaut. »Deine Träume quälen dich. Schatten verfolgen dich. Es war deine Bestimmung, zu uns zu kommen. Es war deine Bestimmung, diesem Weg zu folgen. Du glaubst nicht an das, das zu glauben du erzogen wurdest. Du bist erfüllt von Ängsten und Sorgen, und dennoch verfügst du noch immer über Liebe. Das ist gut. Liebe zu Kindern, Liebe zu dir selbst, Liebe zu dem Mann, der ›Falkner‹ genannt wird, Liebe zu deinem Vater, deinem Bruder und deinen Schwestern, und Liebe sogar zu den Magdalenen mit
ihrer bitteren Dunkelheit. Bevor du zu uns kommst, bevor du die Weisheit der Alten Bräuche zu verstehen beginnst, musst du alles, was du liebst, aufgeben. Denn das Leben besteht aus endlosem Schmerz, wenn wir uns zu sehr an Dinge klammern, die vergehen und verloren sind. Du wirst verstehen lernen, was das Leben ist, und was sich jenseits davon befindet, in der Weisheit.«
Dann zog die verschleierte Jungfrau ihre Hand zurück. Für einen kurzen Augenblick erinnerte sie mich, als sie so dastand, an eine Statue. Wo hatte ich diese Statue bloß schon zuvor gesehen? Vielleicht war es eine kleine Figurine, möglicherweise hatte sie zu den Habseligkeiten meiner Mutter gehört. Sie war von Kopf bis Fuß verhüllt, und eine Hand war erhoben, die Handfläche nach außen
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