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Priester des Blutes

Priester des Blutes

Titel: Priester des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Clegg
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bei nahe zu groß, um durch das kleine Loch zu passen. Ich tastete umher, und da steckte ein glatter Stein. Ich zog ihn heraus.
    Während mein Großvater mich wieder auf dem Boden absetzte, öffnete ich meine Hand, um ihn zu betrachten. Da bemerkte ich, dass er außer Atem war, und machte mir Sorgen, dass ich ihn erschöpft hätte.
    Der Stein war von einem dunklen Blau, aber verblasst und in der Mitte zerbrochen. In seinem Inneren schien Bernstein zu glühen.
    Indem er tief Luft holte, sagte mein Großvater: »Ich habe dir einst von deiner Blutlinie erzählt. Dies ist ein Symbol dafür.«
    »Du darfst nicht sprechen«, bat ich. »Du bist müde. Wir können uns ausruhen. Ich kann dir Wasser bringen.«
    »Nein«, entgegnete er. »Setz dich einfach neben mich.«
    Er klopfte auf die mit Farn überwucherte Erde zu seiner Linken, und ich ließ mich zu Boden fallen, begierig darauf, eine neue Geschichte zu hören. Er umschlang mich mit seinem Arm und nahm mir den Stein aus der Hand.
    »Er besitzt keinen großen Wert mehr«, er klärte er. »Aber einst war er ein Zeichen unserer Familie. Bevor die Eindringlinge kamen, rann unser Blut durch die Adern dieses Waldes. Der Großvater des Großvaters meines Großvaters pflanzte diesen Baum. Damals gab es noch keine Abtei. Keine Kirche. Nun sind wir die Besiegten. Aber du darfst niemals vergessen, wer wir waren, denn
es liegt dir im Blut, mehr zu sein als das, was dir die Welt aufgezwungen hat. Und was dein richtiger Vater getan hat.«
    »Mein Vater?«, fragte ich, doch als er wieder mühsamer atmete, bat ich ihn, ein wenig auszuruhen, bevor er sprach.
    Aber das tat er nicht. »Meine Vögel sind das letzte Überbleibsel meiner eigenen Kindheit. Sie werden fortfliegen. Aber du wirst dich an diesen Tag erinnern, nicht wahr, Aleric? Du wirst dich an mich erinnern?«
    »Immer«, sagte ich, nahm seine Hand in die meine und beugte mich darüber, um sie zu küssen. »Aber du wirst mich niemals verlassen. « Wie jung ich war, dass ich solche Dinge sagte! Wie wenig wusste ich von dem Pulsschlag des Lebens selbst! Denn ganz gewiss bestand für den alten Mann keine Hoffnung mehr, noch lange zu leben - es war ihm nur durch Glück und die Liebe zu seiner Familie gelungen, überhaupt bis zu jenem Tag zu überleben. Zur damaligen Zeit konnte ich noch nichts von der Krankheit wissen, die einige Jahre zuvor damit begonnen hatte, verheerende Schäden an seiner Gesundheit anzurichten. Ich konnte auch nicht wissen, dass seine Schwierigkeiten zu atmen und seine Beschwerden, die durch wieder schmerzende alte Wunden verursacht wurden, sämtlich zu den Zeichen seines Dahinscheidens gehörten.
    »All jene, die auf dieser Erde leben«, sagte er, »müssen auch aus diesem Leben scheiden. Das bedeutet nicht, dass wir nicht mehr hier sind. die Seele fliegt davon, und nichts sollte sie davon abhalten, ihre Flügel auszubreiten, genau wie eine Taube. Ihre Reise ist nur ihr selbst bekannt, nicht demjenigen, der die Taube besitzt. Hier« - er legte meine Hand auf sein Herz - »fühlst du, wie es schlägt, leicht, schwach? Wie ein Trommler, der in die Ferne marschiert? « Dann legte er meine Hand auf mein eigenes Herz. »Deines ist stark und beginnt seine Reise erst. Aber eines Tages wird sein Schlag ebenfalls langsamer werden. Es ist ein Geschenk zu sterben, Aleric. Das musst du immer in Erinnerung behalten. Wir
kehren in diese Umarmung zurück.« Er blickte hinauf ins Blätterdach, den tiefgrünen Smaragd des Waldes. »Und die Seele fliegt wie ein Vogel in ein neues Nest.«
    Ich wehrte mich gegen den Kummer, den seine Worte in mir auslösten. In dem Versuch, sein Pochen zu hören, presste ich mein Gesicht gegen sein Herz. Doch es war schwach. Er streichelte mir über den Scheitel. »Dein Falke ist davongeflogen«, flüsterte er. »Nun wird er frei im Wald leben, denn er sucht eine Gefährtin. Er befindet sich jetzt im Alter der Paarung und der Jagd. Du wirst dieses Alter ebenfalls bald erreichen. Es ist eine wichtige Zeit. Du wirst den Wald vergessen. Du wirst sogar die Vögel vergessen. Aber du musst dir deinen Weg in der Welt erkämpfen, Aleric. Es ist wichtig, dass du dich erinnerst. Erinnere dich an diesen Stein aus dem Baum. In der Welt ist er von geringem Wert. Aber es handelt sich bei ihm um einen alten Stein unseres Volkes. Einst besaßen ihn nur bedeutende Männer und Frauen. Einst gehörten wir zu einem Geschlecht der Priester des Waldes. Niemand spricht heute noch von den Unseren. Viele wurden gejagt.

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