Priester des Blutes
mich ein wenig von ihm zurück.
Ich erinnere mich daran, wie sehr meine Liebe zu ihm jede andere Liebe überstrahlte. Jede Runzel dieses Gesichtes, jedes weiße Haar auf seinem Kopf, die Art und Weise, wie ein Knoten an
seinem Hals auf und ab hüpfte, wenn er sprach. Ich konnte im Schmutz und in der Kälte leben, mich mit den düsteren Stimmungen meiner Mutter abfinden, die ab und zu plötzlich auftraten, solange ich nur bei diesem alten Mann sein konnte, dessen Weisheit und Wärme mich emporhoben und hochhielten, über all das, was mich nach unten zu ziehen drohte.
»Du warst einst ein König«, sagte ich.
»Kein König«, korrigierte er mich. »Nicht so, wie du dir Könige vorstellst. Ich diente einem höheren Wesen, als es irgendein König bieten könnte. Desgleichen mein Vater und auch mein Großvater. Was wir einst taten …« Er beugte sich nach vorn und küsste mich auf die Stirn. »Es war ein mal, vor langer Zeit. Jene Welt ist nun vergangen. Der Wind hat sie zum Meer geweht.« Eine Träne, die aussah wie ein Edelstein, erschien in seinem Augenwinkel. »Vorbei. Aber du, du stammst von einer bedeutenden, erhabenen Blutlinie ab. Das darfst du niemals vergessen. Wir sind Kin der dieses Waldes. Wir pflanzten diese Bäume, unsere Seelen verweilen hier.«
Es war eine märchenhafte Geschichte über unseren Clan, und niemand glaubte an sie. Er jedoch hielt daran fest, und ich erträumte mir, dass sie wahr sei. Er spann sie wie ein Spinnennetz für mich. Ich nehme an, da her stammte auch mein heftiges Verlangen nach etwas Besserem, nach einem schöneren Leben. Das war der Grund, warum der Gestank des Schweinestalls und der Geruch der ver rottenden Früchte im Obstgarten mich quälten, und ebenso der abscheuliche Schwall von fauligem Fischgeruch, der meinen Stiefvater begleitete, wenn er von seinen Reisen aus der Ferne zurückkehrte. Nach dem er Monate fort gewesen war, tauchte er gewöhnlich mit den kalten Regengüssen wieder auf, die Augen so rund und leer wie die eines Heilbutts, der Schnurrbart wie die Barteln eines Karpfens, der üble Gestank nach ausgenommenen Fischen an seinen rauen Händen. Dieses Leben hatte für mich noch nie irgendeinen Reiz geborgen.
Aber ich wusste von dieser anderen Welt, die vielleicht außerhalb meiner Reichweite liegen mochte. Doch ich beschloss schon früh in meinem Leben, dass ich nach ihr greifen würde. Während mein Großvater noch am Leben war, hielt ich an dem Traum vom Glück fest. Ich übersah die Gewohnheiten meiner Mutter. Manchmal erkannte ich in ihr eine Feenprinzessin, die wilden Männern Wünsche erfüllte.
Ich verbrachte so viel Zeit mit meinem Großvater, dass ich alle anderen Pflichten bald vergaß. Wir richteten die Vögel ab. Wir lehrten die Raben das Sprechen. Wir sammelten im Frühling die Eier ein und hielten sie auf verschiedene Arten warm, um die Jungen dazu zu bringen, dass sie uns folgten. Er verkaufte sie dem Baron und der Abtei, im Austausch für Nahrung. Die Gänse der Abtei stießen Schreie aus, um uns zu grüßen, immer wenn mein Großvater und ich mit neuen Jungvögeln ihren Grund und Boden betraten.
Wenn ich mir den Knaben vorstelle, der ich war, er innere ich mich an den Geruch nach Schlamm, den mit Grasflecken übersäten Kittel und meine juckende Kopfhaut. Und dennoch störte mich nichts von alledem. Denn mein Großvater und seine Vögel hoben mich empor in den Himmel. Ich flog mit ihnen über all meine Schwierigkeiten hinweg.
Wir wanderten den Pfad am Rande der Marsch entlang, indem ich mit dem Überschwang der Kindheit vorausrannte und er hinterherhinkte, gestützt auf einen langen Ast, den er geschnitzt hatte, um mit seiner Hilfe besser laufen zu können. Er führte mich zu einer großen Eiche, die zwar abgestorben war, aber den noch hoch und mächtig neben einem sprudelnden, klaren Bach stand. Ein Falke, den ich im vorigen Winter abgerichtet hatte, thronte auf meiner Schulter und grub seine Krallen in das Lederpolster, das dort zum Schutz angebracht war.
Großvater hatte mir etwas zeigen wollen und den ganzen Winter
über versprochen, mich zu einem ganz bestimmten Ort im Wald mitzunehmen, dorthin, »wo der Schatz wächst«.
An dem Baum stellte er sich auf die Zehenspitzen und zog die Wurzeln einiger dicker Kletterpflanzen beiseite. Er hob mich hoch, so dass ich sehen konnte, was er gefunden hatte.
»Stecke deine Hand hinein«, sagte er zu mir.
Vor meinem Gesicht sah ich einen Astknoten in der Eiche.
Und griff hinein. Meine Hand war
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