Priester des Blutes
Viele wurden getötet. Viele blieben zurück, um Priester in der Kirche des neuen Gottes zu werden. Du entstammst einer Priesterkaste, mein Junge. Dein Talent für die Vögel zeigt mir, dass du den Bräuchen des Waldes am nächsten stehst. Du wurdest gelehrt, die Wälder seien voller Teufel. Aber du weißt doch, dass das nicht wahr ist.« Während er sprach, schien seine Kraft zurückzukehren. Ich spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, und war froh darüber, denn das ganze Reden über die Vergangenheit und den Tod und über Steine und Priester hatte mich denken lassen, er hätte bloß noch wenige Augenblicke zu leben. »Ich möchte, dass du dich an dies hier erinnerst. Dein Vater war ein Mann, den ich verachtet habe. Dennoch gab es eine gewisse Größe in ihm. Er war nicht von unserer Art und stammte auch nicht aus irgendeinem Land, das ich kenne. Er wählte deine Mutter aus, weil er verstand, dass sie die
Tochter des Waldes war, auch wenn sie im Morast lebte und sich selbst allzu freizügig den Männern hingab. Er veränderte sie für immer. Du musst ihr alles vergeben, denn in seinem Blick lagen Macht und Schrecken. Und trotz alledem besaß er zugleich auch Güte. Diese Güte ist in dir ebenfalls zu spüren.«
»Wer war er? Wo kann ich ihn finden?«
»Er wird dich finden«, erwiderte mein Großvater. Dann, als er einen Teil seiner Kraft wiedergewonnen hatte, hob er mich hoch, damit ich den Stein wieder in den Astknoten der Eiche legen konnte. Doch ich befolgte seinen Wunsch nicht. Ich hatte Angst, ich würde den Baum oder den Stein nie mehr wiederfinden. Daher ließ ich ihn in das Lederschutzpolster, das meine Schultern bedeckte, gleiten und sagte meinem Großvater nicht, dass ich ihn genommen hatte. Das Üble an dieser Tat quälte mich nicht bis zum nächsten Morgen, als meine Mutter rief, ihr Vater stehe zu still auf dem Feld.
Als meine ältere Schwester und ich zu ihm hinausgerannt kamen, war er bereits zu Boden gestürzt.
»Großvater!«, schrie ich und fühlte nach seinem Herzschlag, während meine Schwester mit ihren Schreien andere Leute herbeirief. Ich weinte über seinem Leichnam, wobei ich nicht glauben wollte, dass er gestorben war, und nicht wieder in sein lebloses Gesicht blicken wollte. Ich schlang meine Arme um seinen Hals, die Tränen kamen mir viel zu leicht.
In diesem Augenblick hörte ich den Vogelgesang - nur eine Lerche auf dem Feld.
Als ich ihn los ließ, sah ich einen Schwarm wilder Vögel aus dem Wald fliegen, über die Marschen hinweg. Obwohl es eine Täuschung meiner Erinnerung sein kann, ich war doch sicher, ich hörte die Gänse schnattern, als würden sie beten; und die beiden Raben aus der Zucht meines Großvaters kreisten am Himmel
über uns. Sie wichen nicht vom Himmel, bis meine Mutter seinen Leichnam fortgebracht hatte.
Die Vögel hatten es gewusst. Mein Großvater hatte seinen letzten Atemzug getan, und die Vögel hatten seine Seele mitgenommen, so wie er sie, nachdem sie geschlüpft waren, in die Hände genommen hatte.
Die Seele fliegt davon, und nichts sollte sie davon abhalten, ihre Flügel auszubreiten, hatte er gesagt.
Nach seinem Tod wurde ich dann krank und bekam Fieber. Ich hielt den Stein geheim und rieb ihn in der Nacht mit den Fingern, als ob ich mir wünschte, dass mein Großvater zurückkehrte.
Eines Morgens erwachte ich und fühlte mich besser, doch in meiner Seele war Zorn herangewachsen. Ich sah die Dinge düster, ich begann die Welt als Verschlingerin von allem, was gut war, zu betrachten. Für meine Mutter konnte ich nicht länger Vergebung finden und erhielt auch keinen Trost von meinen Geschwistern. Es fühlte sich für mich so an, als wäre alle Liebe verloren gegangen, als dieser alte Mann auf dem Feld zu Boden fiel, und als wäre nur meine Liebe zu den Vögeln übrig geblieben.
Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dieses Haus zu ver lassen und weit weg zu gehen. Dieses Bedürfnis wurde zu einem Durst, der nicht gestillt werden konnte, oder zu einem Hunger, bei dem nach einem Festmahl keine Sättigung ein trat. Ich konnte dem Gefühl nicht entkommen, dass ich verschwinden musste, so wie es mein älterer Bruder Frey getan hatte.
Am Vorabend der Sommersonnenwende fand ich tatsächlich einen Weg, fortzugehen und meiner Familie dennoch nahe genug zu sein, um ihr zu helfen, wann immer es mir möglich war.
DER JÄGER
Als die Männer des Barons nach einem neuen Knaben suchten, der bei der Jagd helfen und die Falken und Hühnerhabichte
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