Prime Time
sich um. Dann ging sie, von widerstreitenden Eindrücken erfüllt, langsam zum Bahnhof.
Wenn die destruktive Haltung Hannah Perssons in den Augen anderer auch frei gewählt war, für sie selbst war sie absolut zwingend. Wie konnte sie nur so blind für ihre eigenen Möglichkeiten sein? Warum fiel ausgerechnet sie aus dem Rahmen der Gesellschaft für Akzeptanz und soziale Fürsorge? Welche schrecklichen Erfahrungen musste ein Mensch gemacht haben, der sich freiwillig dafür entschied, außerhalb der Gemeinschaft zu stehen?
Annika hustete und ließ nur widerstrebend den nächsten Gedanken zu.
Anne Snapphane hatte wegen Michelle die große Chance ihres Lebens verpasst. Welche Reaktionen hatte diese Erkenntnis plötzlich hervorgerufen? Anne hatte spontan geschrien, sie würde Michelle umbringen. Wie groß war der Wunsch nach Rache? Groß genug, um den Worten auch Taten folgen zu lassen, eine Waffe zu nehmen und abzudrücken?
Annika schüttelte sich und ging etwas schneller. Das war undenkbar. Absolut unmöglich. Sie schloss die Augen und spürte die Erschütterung ihrer Schritte im ganzen Körper.
Nicht Anne, niemals.
Die Grenzen und Tabus der Menschen verändern sich je nach Kultur und Zeit, aber jemanden aus Neid oder Rache zu töten war unverändert verboten.
Das würde sie niemals tun, dachte Annika beschwörend.
Das Handy klingelte. Annika zögerte, denn sie war sicher, dass es Anne war. Die Telepathie sorgte dafür, dass sie gleichzeitig aneinander dachten und sich anriefen.
Sie sah misstrauisch auf das erleuchtete Display, aber dort stand eine Nummer, die sie nicht kannte.
»Hallo? Annika? Hier ist Bosse.«
Sie starrte über die Straße und durchforstete mit einem Anflug von Panik ihr Gedächtnis.
»Wer?«
»Bosse, von der Konkurrenz. Wie geht es dir?«
Sie holte tief Luft, und das Blut schoss ihr ins Gesicht.
Anne war plötzlich unendlich weit weg.
»Ja, hallo«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte plötzlich.
»Prima. Und selbst?«
»Wir wollen heute mit ein paar Leuten nach der Arbeit ein Bier trinken gehen. Ich habe mir gedacht, dass du vielleicht Lust hast mitzukommen.«
Sie bekam keine Luft mehr, ihr Mund stand offen.
Ja! Wollte sie rufen. Ja! Ich will Bier trinken und lachen und gesehen werden. Ich will über Schlagzeilen reden und über Michelle Carlsson und die Typen vom Studio 6, ich will alte Anekdoten und Auslassungen über die Lage der Weltpolitik hören, ich will in Augen blicken, die mir Wärme schenken, ich will nah neben jemand sitzen, ich will dabei sein! Ich will Spaß haben!
»Tut mir Leid«, sagte sie kurz angebunden. »Ich … ich muss nach Hause.«
Sie schluckte, etwas Warmes lief durch ihren Körper, sprühte Funken und lebte.
»Ach so, okay.«
Die Stimme in der Leitung konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.
Sie kniff die Lippen fest zusammen und schob die Freude beiseite.
»Na gut«, sagte er und versuchte zu lachen. »Dann vielleicht ein andermal?«
Sie schloss die Augen, die Tränen brannten.
»Es geht nicht«, flüsterte sie.
»Nee, klar. Okay. Ich meine nur … du hast so fröhlich geklungen, als du rangegangen bist.«
Es wurde still.
»Tut mir Leid«, sagte sie schließlich. »Ich muss jetzt Schluss machen.«
»Okay. Mach’s gut.«
Annika drückte auf den Knopf.
Sie sah fest auf die schnurgerade und endlose Straße. Der Regen fiel jetzt dichter, auf dem Weg zum Bahnhof würde sie pitschnass werden.
Sie schlug die Kapuze der Jacke hoch und lief los.
Thomas sank mit einem Cognac und seiner Zeitung erschöpft an den Küchentisch. In seinem Kopf kreisten Stimmen und Gedanken, er trank den Alkohol in großen Schlucken, um sie zum Schweigen zu bringen.
Südkorea, Fourth International Next Generation Leaders’ Forum. Ja, verdammt, er war als einer der Führer der nächsten Generation ausgewählt.
Die gehässige Stimme in seinem Kopf protestierte sogleich.
Sung-Joon wollte mit ihm über alte Zeiten plaudern, das war alles.
Er schlug die Zeitung auf und rieb sich die Augen. Die englischen Textzeilen hüpften wie Kaninchen herum.
Vom zweiten bis zum zwölften September, er würde hinfahren. Annika sollte nur versuchen, ihn daran zu hindern.
Er blätterte weiter und versuchte ärgerlich, den nächsten Artikel zu lesen.
»Ich hab Angst.«
Thomas schrak von der Zeitung auf und sah den Jungen mit Decke und Teddy in der Tür stehen, den Daumen im Mund.
Schreckliche Müdigkeit überkam ihn.
»Ach nein, mein Kleiner«, sagte er, »du musst jetzt ins
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