Prime Time
blieb stehen.
»Wie in aller Welt«, schimpfte er, »können Sie es wagen, meinen Sohn als Mörder zu bezeichnen? Und das in unserer eigenen Zeitung?«
Schyman holte Luft, er konnte alles erklären. Er wollte auf die Punkte hinweisen, die deutlich machten, dass Carl Wennergren keineswegs als Mörder erschien, sondern als Held, wollte gerade den Unterschied zwischen »Zeuge« und »Verdächtiger« beschreiben, als etwas Unerwartetes geschah.
Ein Gedanke, kristallklar und rein in seiner Brillanz, während vieler Monate und Jahre der Frustration und Ohnmacht gezüchtet und geformt, schoss ihm plötzlich durch den Kopf.
Im nächsten Moment folgten die Bedenken, moralische Einwände, die Risiken, die Konsequenzen. Er holte noch einmal tief Luft und schob alle Zweifel beiseite.
»Es tut mir schrecklich Leid«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine gute Erklärung bieten. Doch die Entscheidung über die Veröffentlichung, von der Sie sprechen, die Namen und Fotos von Verdächtigen oder Kriminellen, liegt ausschließlich beim verantwortlichen Herausgeber.«
»Aber wie können Sie es wagen«, schimpfte Herman Wennergren und marschierte aufgeregt den schmalen Gang zwischen Buchregalen und Besucherstühlen auf und ab. »Da nennen Sie meinen Sohn einen Verdächtigen und seine Verlobte noch dazu. Carl und Mariana sind ehrenwerte junge Menschen, dafür lege ich die Hand ins Feuer. Und woher haben Sie überhaupt dieses alte Foto von Carl? Darauf sieht er ja aus wie ein Gangster!«
Schyman ließ sich langsam auf seinen Stuhl sinken.
»Das Foto stammt von Carls Autoreninfo bei dieser Zeitung. Carl hat es selbst ausgewählt. Und was die Frage der Veröffentlichung angeht, muss ich Sie leider weiterverweisen.«
Doch der Vorstandsvorsitzende, der es gewohnt war, Macht und Einfluss zu haben, gab nicht so leicht auf.
»Und die anderen hier, diese Annika Bengtzon, was ist denn das für eine? Wie kann sie einen solchen Schmonzes verfassen?«
»Unsere Reporter sind unser Fußvolk«, erwiderte Anders Schyman, »sie halten das Ohr auf den Boden und berichten, was sie hören. Sie entscheiden nicht, was geschrieben oder gedruckt wird. Das kann nur der Chefredakteur tun. Aber ich stimme Ihnen zu, dass dieser Artikel eine heikle Sache ist.
Der verantwortliche Herausgeber hätte ihn ruhig mit uns anderen absprechen können.«
»Soll das heißen, dass er das nicht getan hat?«
»Weder mit mir noch mit der Autorin.«
»Rufen Sie den Kerl an. Und zwar sofort.«
Schyman erhob sich, nahm den Hörer und wählte die Handynummer des Chefredakteurs. Zum ersten Mal an diesem Mittsommer-Wochenende war das Telefon eingeschaltet. Torstensson ging nach dem dritten Klingeln ran.
»Wie gut, dass ich Sie erwische, Torstensson«, sagte Schyman, fing den Blick von Herman Wennergren auf und wies bedeutungsvoll auf den Hörer. »Es gibt da eine wichtige Sache, die wir besprechen müssen. Was halten Sie von der heutigen Ausgabe der Zeitung?«
In der Geräuschkulisse hinter dem Chefredakteur hörte man Besteck, das auf Porzellan klapperte, Reden, Lachen und weiter entfernt Ziehharmonikamusik.
»Ich habe sie noch nicht gelesen«, sagte Torstensson.
»Worum geht es denn?«
»Ach so«, sagte Schyman und sah Wennergren an. »Okay.
Wir haben auf den ersten Nachrichtenblock, die Sechs und die Sieben, schon Reaktionen bekommen. Die Fotos von den Zeugen im Schloss.«
»Welche Zeugen?«
Die Stimme des Chefredakteurs verriet Desinteresse, er schien einem Gespräch zu lauschen, das gerade an seinem Tisch geführt wurde.
»Publizistische Entscheidungen dieser Art kann man natürlich immer diskutieren«, sagte Schyman bedächtig, drehte sich um und betrachtete durch die Glaswand die Redaktion. »Vielleicht wäre es hier angebracht, mal eine Auswertung durchzuführen.«
»Wovon reden Sie?«, fragte Torstensson, der jetzt näher an der Muschel war.
Schyman wartete einen Moment, nickte in die Stille hinein und schüttelte dann den Kopf.
»Da bin ich anderer Ansicht«, sagte er schließlich. »Ich glaube, dass eine solche Diskussion durchaus angebracht und nützlich wäre.«
Aus Torstenssons Verwirrung wurde langsam Wut.
»Was führen Sie denn jetzt schon wieder im Schilde, verdammt noch mal?«, fragte er.
Schyman hörte einen Stuhl schurren, die Stimmen und das Porzellangeklapper traten in den Hintergrund.
»Ich finde auch, dass wir weitermachen sollten«, sagte der Redaktionsleiter, »aber Reflexion und Nachdenken müssen nicht zwangsläufig
Weitere Kostenlose Bücher