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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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wirklich niedergebrannt und dass er, Daniel, dabei zugesehen hatte. Gleichviel, das lag, wie Mr. Threader gesagt hätte, in der Vergangenheit. Jetzt überwölbte ein ziemlich neues Dach die Kirche. Daniels Hintern und der Hintern der edlen und vornehmen Gemeindemitglieder wurde mittels ausgezeichneter geschnitzter Bänke auf Abstand zum Steinboden gehalten, Bänke, die zu Jahrespreisen, die sich Daniel nicht einmal vorzustellen wagte, an die Gottesdienstbesucher vermietet wurden.
    Die Kirche schien von der hochtrabenden Sorte zu sein, in welcher der Geistliche prächtige Gewänder trug. Vielleicht war sie es ja tatsächlich, nicht jedoch am heutigen Tag. Er kam in Sackleinen den Mittelgang heraufgetrottet, den Kopf tief gesenkt, die fahlen Finger unter dem Kinn miteinander verschränkt, indes die Orgel traurige Musik ächzte, gespielt mit der Zungenstimme, die sich über das Knurren in den leeren Mägen der Schäflein lustig machte.
    Es war eine Szene von pränormannischer Düsterkeit. Daniel rechnete halb damit, Wikinger durch die Buntglasfenster krachen und die Damen vergewaltigen zu sehen. Er war sich ganz sicher, dass die Königin einen weiteren Rückschlag erlitten haben musste oder die Franzosen hundert irische Regimenter in der Themsemündung angelandet hatten. Doch als sie die obligatorischen Rituale zu Beginn des Gottesdienstes hinter sich gebracht hatten und der Geistliche schließlich Gelegenheit fand, aufzustehen und mitzuteilen, was er auf dem Herzen hatte, stellte sich heraus, dass all dies Fasten und In-Sackund-Asche-Gehen nur dazu diente, ein Ereignis zu beklagen, das Daniel von einer bequemen Warte auf den Schultern seines Vaters aus vor fünfundsechzig Jahren persönlich miterlebt hatte.
     
    »Für mich hätten diese Leute ebenso gut Hindus sein können!«, schrie er, als er sich drei Stunden später – nur Augenblicke, nachdem die Schlussmelodie verklungen war – in Mr. Threaders Kutsche stürzte.
    Dann sah er Mr. Threader an, denn er rechnete damit, die Perücke des Mannes in prasselnden Flammen stehen und sein Brillengestell geschmolzen von seinen Ohren tropfen zu sehen, denn Daniels Säfte gerieten schwer aus dem Gleichgewicht, wenn er nichts zu essen bekam, und er war sich ziemlich sicher, dass sein Mund Feuer spie und seine Augen Funken sprühten. Doch Mr. Threader blinzelte nur verwundert. Dann hoben sich seine keineswegs in Flammen stehenden, weißen Augenbrauen – seine übliche Reaktion, wenn er von dem Drang zu lächeln übermannt wurde.
    Daniel wusste, dass Mr. Threader diesen Drang aus folgendem Grund verspürte: weil nun, in den letzten Stunden ihrer zweiwöchigen Reise, der Hunger und eine High-Church-Predigt Erfolg gehabt hatten, wo Mr. Threader gescheitert war: Der wirkliche Daniel Waterhouse war entlarvt worden.
    »Ich sehe keine Hindus, Dr. Waterhouse, nur eine Schar braver englischer Pfarrkinder, die nicht aus einem heidnischen Tempel, sondern aus einer Kirche hervortreten – der Staatskirche dieses Reiches, falls man Euch nicht richtig informiert hat.«
    »Wisst Ihr, was sie getan haben?«
    »Das weiß ich, Sir, denn ich war ebenfalls in der Kirche, wenn auch in einer weniger teuren Bank, wie ich zugeben muss...«
    »›Buße getan für die grässliche Sünde des abscheulichen Mordes an dem königlichen Märtyrer! Seiner widerwärtigen Hinschlachtung durch den Pöbel gedacht!‹«
    »Das bestätigt, dass wir denselben Gottesdienst besucht haben.«
    »Ich war dabei«, sagte Daniel – und er sprach von der widerwärtigen Hinschlachtung -, »und für mich hat es sich wie ein vollkommen regelgerechtes und wohlgeordnetes Verfahren ausgenommen.« Inzwischen hatte er ein paar Augenblicke Zeit gehabt, sich wieder zu fassen, und nicht mehr das Gefühl, Flammen zu spucken. Den letzten Satz äußerte er in sehr mildem Gesprächston. Dennoch hatte er eine viel stärkere Wirkung auf Mr. Threader als alles, was Daniel ihm hätte entgegenschreien oder -brüllen können. Das Gespräch endete so dramatisch, wie es begonnen hatte. Eine Stunde lang, und noch eine weitere, fielen nur wenige Worte, während sich die Kutsche und die Wagenkolonne, welche die Nachhut bildete, über Kleinstadtstraßen einen Weg zur Oxford Street suchten, sich in Richtung London wandten und ostwärts durch eine grüne, von Teichen durchsetzte Landschaft steuerten. Mr. Threader, der in Fahrtrichtung saß, starrte zu einem Seitenfenster hinaus und machte ein beunruhigtes, dann grüblerisches, dann trauriges Gesicht.

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