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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Feinfeuer bei einer Prüfung anhand der Pyx überstehen.«
    »Was um alles in der Welt ist eine Pyx?«, fragte Caroline. Doch es kam keine Antwort. Sophie zog sie heftig am Arm und sank im selben Augenblick gegen sie. Caroline musste in die Knie gehen und den freien Arm rasch um Sophies Schultern schlingen, um nicht zu stürzen. »Großmama? Wünscht Ihr in diese Richtung zu gehen?« Sie warf einen raschen Blick auf die dunkle Baumgruppe auf der linken Seite des Pfades. »Wünscht Ihr den Teufelsbaum zu besuchen?« Vielleicht hatte Sophie es sich anders überlegt und wollte unter den Bäumen Schutz suchen, anstatt den ganzen Weg bis zum Pavillon zu gehen.
    Aus Sophies Mund drangen Laute, die nicht recht zu verstehen waren. Das Geprassel von Regentropfen auf Blättern erschwerte es, selbst wohl artikulierte Worte zu hören. Doch diese Äußerung Sophies war nicht wohl artikuliert gewesen. Caroline bezweifelte, dass es sich überhaupt um Worte gehandelt hatte. Schwer auf Caroline gestützt, schlurfte und hüpfte Sophie auf einem Bein dahin, bis sie unmittelbar vor einem eisernen Tor angelangt waren. Denn das Stück Garten, auf dem der Teufelsbaum stand, war von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben, als müsste er in einem Käfig gehalten werden.
    Sophie machte eine Kopfbewegung zum Tor hin und blickte dann mit einer Art schiefem Grinsen zu Caroline auf: die eine Hälfte ihres Gesichts flehentlich, die andere schlaff und leer. Caroline griff nach der Klinke des Tors. In dem Augenblick, in dem das kalte, nasse Eisen ihre Hand berührte, wusste sie, dass Sophie einen Schlaganfall erlitten hatte. Denn dies war nicht das erste halb gelähmte Gesicht, das Caroline je gesehen hatte. Nur waren die Symptome in einem Gesicht, das sie so gut kannte und so sehr liebte, schwerer zu erkennen. Einen Moment lang erstarrte sie mit der Hand auf der Klinke, als hätte irgendein Zauber ihren Leib in kaltes Eisen verwandelt. Eigentlich müsste sie Hilfe holen, die Ärzte suchen.
    Doch da tat Sophie etwas Bezeichnendes: Sie blickte den Gartenpfad auf und ab, und sie tat es verstohlen – sie, die noch nie in ihrem Leben etwas Verstohlenes getan hatte.
    Sophie konnte nicht sprechen, und sie konnte sich kaum aufrecht halten, aber sie wusste, was geschah. Sie hatte Angst davor, gesehen zu werden. Angst davor, eilends ins Schloss geschafft, von den Chirurgen zur Ader gelassen, ins Gesicht hinein bemitleidet und hinter ihrem Rücken verspottet zu werden. Es entsprach ihrem Instinkt, sich im dichtesten und dunkelsten Teil des Gartens zu verkriechen und dort zu sterben.
    Caroline stieß das Tor auf, und sie traten ins Dunkel.
    Der Teufelsbaum war eine Kuriosität, die Sophie von den Familiengütern im Harz mitgebracht hatte: ein wertloser Baum, der am Boden entlangkroch und an Dingen emporkletterte, und dies mit der ganzen Masse und Macht eines großen Baums, doch der Biegsamkeit einer Ranke, die andere Dinge umschlang und sie einschnürte. Seine Äste krümmten und teilten und gabelten und wanden sich auf bizarre Weise. Die Biegungen sahen in etwa wie Ellbogen und Knie aus, und die glatte Rinde und sehnige Form des Holzes ließen das Ganze wie die nicht zu identifizierenden, ineinander verschmolzenen Gliedmaßen seltsamer Tiere wirken. Die Holzfäller im Harz hassten den Teufelsbaum und stutzten ihn zurück, wo sie nur konnten, doch hier hatte Sophie ihn ungehindert wuchern lassen. Nun erwiderte der Teufelsbaum den Gefallen, indem er Sophie und Caroline in seine sehnigen Arme schloss. Caroline bettete Sophie in eine über dem kalten Boden liegende Beuge des Baumes, setzte sich dann auf eine flache Stelle und barg Sophies Kopf in ihrem Schoß. Der Regenguss hatte ein wenig nachgelassen, vielleicht milderten ihn aber auch die Blätter. Die Zeit dehnte sich ins Unermessliche, während sie dem Regen lauschten, Caroline Sophie über das weiße Haar strich und ihr die eine Hand hielt, die ihre Fähigkeit, den Griff zu erwidern, nicht eingebüßt hatte. Aber der Garten war ein Ort der Ruhe und der Entspannung. Bald darauf entspannte sich Sophies Griff, und Carolines Hand und die Welt entglitten ihr.
    Caroline hatte eine lange Liste von Fragen, die sie Sophie hatte stellen wollen und die sich darum drehten, wie man Königin war. Sie hätte sie dort unter dem Teufelsbaum stellen können, aber das wäre taktlos gewesen, und Sophie hätte sie nicht beantworten können.
    Oder vielmehr, sie hätte nicht mit Worten antworten können. Ihre wahre Antwort,

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