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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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verdeckten. Er brauchte keine Perücke, denn sein glattes Haar war zwar schütter, aber immer noch lang, und die Pocken hatten nur wenige Spuren an ihm hinterlassen. Und er brauchte keinen Puder, denn sein Haar war schon seit einem halben Jahrhundert weiß wie Salz. Langsam schlenderte er der Länge nach durch die Hall und hob dabei zuweilen die hervorquellenden Augen, sodass sein Blick sich mit dem so mancher dieser allwissenden Engel traf, während er anderen keinerlei Beachtung schenkte. Ab und zu blickte er sich kurz um, als könnten seine Ohren Echos ausmachen und Resonanzen wahrnehmen, für die alle anderen taub waren. Irgendwann erreichte er das Südende des Gewölbes, wo der Verkehr zwischen zwei behelfsmäßigen Gerichtshöfen hindurchgeleitet wurde. Mit einer sichtlichen Verhärtung seiner Miene zwang er sich in einen diffusen Lärm dahinter. Er war aus der Hall verschwunden. Vielleicht hatte er sie auf seinem Gang verändert, ihr irgendeine stille Weise hinzugefügt, die, nachdem er gegangen war, nachhallte und immer noch nachhallt.
    Seit sechshundert Jahren richteten Stämme, Clans, Splittergruppen, Sekten, Klassen, Häuser und Dynastien in den Nebengebäuden der Hall ihre Standarten auf und erlebten, wie sie zu Boden geworfen wurden. Die Hall war für die Macht, was Covent Garden für Gemüse war. Sinnlos, zu versuchen, die Einzelheiten zu verfolgen, ehe man über die Schwelle trat. Im Augenblick gab es hier, und das schon seit einigen Jahrhunderten, etwas, das sich Parlament nannte und aus zwei parallelen oder alternativen Veranstaltungen mit Namen Commons und Lords bestand, die beide Schauplatz eines fortdauernden Krieges zwischen Torys und Whigs waren, den Söhnen und Erben von Kavalieren und Rundköpfen, den Söhnen und Erben von Anglikanern und Puritanern etc., etc. Jede nannte sich selbst die Partei und die andere die Splittergruppe. In der Düsternis hinter ihnen wimmelten, mit Geld und Waffen fuchtelnd, Nachkommen alter Kriegsherren, die derzeit unter dem Namen Jakobiten und Hannoveraner firmierten. Die Schlacht selbst wurde täglich mit Worten ausgetragen, die so zahlreich waren wie Schießpulverkörnchen auf einem Schlachtfeld.
    Der silberhaarige Knight war in eine gotische Kapelle mit hohen Wänden gerufen worden, die schon seit einigen Jahren von dem Organ namens Commons beansprucht, mit Beschlag belegt und gegen jedermann verteidigt wurde. Im Augenblick wurde dieses Organ von den Torys dominiert. Gerufen hatte ihn ein Ausschuss oder eine Untergruppe der Commons, die zufällig weitgehend aus Whigs bestand. Warum hatte es eine Masse von Torys zugelassen, dass eine Gruppe von Whigs einen Ausschuss bildete, der sich die Macht anmaßen konnte, einen Knight in diese geheiligte Kapelle zu zitieren, die sie als Clubhaus benutzten? Nun, nur deshalb, weil der Gegenstand der Erörterungen dieses Ausschusses so abstrus, so obskur und, mit einem Wort, so langweilig war, dass sie die Whigs mit dem größten Vergnügen ihr Pulver darauf verschießen ließen.
     
    »Man hat mich von vier verschiedenen Projekten zur Ermittlung des Längengrades in Kenntnis gesetzt«, sagte Sir Isaac Newton.
    »Nur vier?«, fragte Roger Comstock, der Marquis von Ravenscar: ein Whig und der Mann, der Newton hierher eingeladen hatte. Er gehörte den Lords, nicht den Commons an und war daher Gast in dieser Kammer. »In der Royal Society, so scheint es, tischt man uns vier pro Woche auf.«
    Dass Roger diesem Gremium nicht angehörte, müsste es eigentlich zweifelhaft erscheinen lassen, ob es sich schickte, dass er einen Fremden eingeladen hatte, vor den Angehörigen dieses Gremiums zu sprechen. Aber er hatte viele Freunde im Raum, die bereit waren, diese und andere Ungeheuerlichkeiten zu übersehen.
    »Ich weiß nur von vieren, Mylord, die der Theorie nach stimmen. Die anderen zähle ich nicht mit.«
    »Gehört das der Herren Ditton und Whiston zu den glücklichen Vier oder zur verstiegenen Masse?«, fragte Ravenscar.
    Alle in der Kapelle begannen wie Hunde zu bellen, ausgenommen er selbst, Newton und die Herren Ditton (der die Farbe eines Granatapfelsamens angenommen hatte und die Lippen bewegte) und Whiston (dessen Augenlider wie die Flügel eines Kolibris flatterten, während in glänzenden Rinnsalen Schweiß unter seiner Perücke hervorströmte und sich in seinen Augenwinkeln sammelte).
    »Ihre Theorie ist ebenso korrekt, wie ihre Ambitionen hinfällig sind«, antwortete Newton.
    Das House of Commons verstummte, nicht vor

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