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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Merkur als Venus.«
    Roger ignorierte ihn und stellte das Teleskop schärfer, um die junge Frau, die ihre Reisestiefel anzog, besser sehen zu können. Sie hatte zweifelsohne langes, wallendes kastanienbraunes Haar, das ihr über eine Schulter fiel und den Boden streifte.
    Nein, es lag auf dem Boden. Auf einem Haufen. Roger blinzelte.
    »Was habt Ihr gesehen?!«, fragte sein Gastgeber. »Habt Ihr sie erkannt?«
    »Wartet, ich bin nicht sicher.«
    Das Haar war ganz bestimmt zu Boden gefallen. Die Frau band in aller Ruhe ihre Schnürsenkel zu Ende und hob es dann auf. Sie hatte hellblonde Haare mit einem Silberglanz, alle eng am Kopf hochgesteckt. Sie hielt die kastanienfarbene Perücke auf Armeslänge von sich weg und schüttelte sie kurz, damit die Locken nach unten fielen. Dann hob sie sie hoch und setzte sie wieder auf ihren blonden Schopf. Die Dienerin, die es irgendwie geschafft hatte, den Reisesack zu schließen, trat hinter sie, zupfte die Perücke zurecht und steckte sie mit einer langen Haarnadel fest.
    »Hol’s der Teufel!«, rief Roger. »Das Haar verrät sie. Wenn diese junge Dame nicht Prinzessin Caroline von Brandenburg-Ansbach ist, dann bin ich kein Whig!«
    »Lasst mich sehen! Was tut sie jetzt?«, fragte Bolingbroke, worauf Roger ihm Platz machte. Nachdem Bolingbroke einen kurzen Augenblick gebraucht hatte, um das Teleskop scharf zu stellen und sich zurechtzufinden, sagte er: »Ich kann sie nur von hinten sehen – ihr Beau ist nirgendwo zu entdecken – sie steigt in eine Kutsche, glaube ich.«
    »Dann glaube ich es auch, Mylord.«

Zum Schwarzen Hund, Newgate - Gefängnis
    ZUR SELBEN ZEIT
    Bei Übungen in der Physik passierte es manchmal, dass der Student, nachdem er stundenlang mit einer widerspenstigen Gleichung gerungen hatte, plötzlich eine Möglichkeit fand, sie drastisch zu vereinfachen. Mit einem Mal erwiesen sich zwei Glieder, die er immer wieder übertragen hatte und die ihm so vertraut geworden waren wie seine eigene Unterschrift, durch irgendeine Erkenntnis oder die Fügung eines neuen Nachweises als gleich, verschwanden aus der Gleichung und hinterließen einen völlig neu zu überdenkenden mathematischen Ausdruck. Die erste Reaktion des Studenten war freudige Erregung: Stolz über seine eigene Klugheit, gemischt mit dem Gefühl, dass er endlich vorankam. Doch bald machte sich Ernüchterung breit, denn als er über die neu erstellte Gleichung nachsann, wurde ihm bewusst, dass er in Wirklichkeit nur ein neues Problem vor sich hatte. So erging es Daniel im Schwarzen Hund, als er versuchte, alles neu zu durchdenken. Ein Beispiel: Jack Shaftoe trug ein Schwert. Als er Sean Partry gewesen war, hatte Daniel das kaum registriert, da viele Männer bewaffnet herumliefen. Dass Jack, hier und jetzt, bewaffnet war, ging dagegen weit über reine Manieriertheit hinaus. Er hatte das alles inszeniert, damit er im Ernstfall Daniel und Isaac töten konnte. Und das Vermögen an guten, hell brennenden Kerzen: Bei Sean Partry war das einfach nur sonderbar gewesen, aber bei Jack war es eine Möglichkeit, die Gesichter seiner Gesprächspartner gut zu sehen, während er seine eigene Visage in Dunkel hüllte. Und das waren nur die einfachen, vordergründigen Dinge. Über die tiefer liegenden würde er noch Wochen zu rätseln haben.
    »Newton ist fassungslos; Waterhouse nickt, als hätte er das schon die ganze Zeit vermutet. Vielleicht ist Waterhouse schlauer, als man ihm zubilligt«, sagte Jack.
    »Ich wusste, dass irgendetwas vor sich ging; anders konnte ich mir verschiedene Ereignisse in jüngster Zeit nicht erklären«, sagte Daniel. »Aber das hatte ich nicht erwartet.«
    »Könnt Ihr es Euch jetzt erklären?«
    »Nein«, erwiderte Daniel mit einem Seitenblick zu Isaac, der ausnahmsweise einmal jämmerlich hinterherhinkte; seine hervortretenden Augen irrten zum Heft von Jacks Schwert, verweilten dort einen Moment und begannen dann, die Wand nach Ausgängen abzusuchen.
    »Die Arbeit eines ganzen Monats: Bedlam, die Großmars und die Überwachungsaktion: Wozu? Was hatte das für einen Sinn?«, fragte Daniel.
    »Fragt de Gex«, antwortete Jack. »Mit diesem langweiligen Marionettentheater hatte ich weniger zu tun, als Ihr vielleicht vermutet. Die meiste Zeit hindurch war ich nur ein amüsierter Zuschauer. Und ein wütender, als ich ihn fortschwimmen sah und wusste, dass er überlebt hatte.«
    »Dann stimmt es also, dass Ihr und er entzweit seid.«
    »Es immer waren«, berichtigte Jack ihn, »obwohl er es erst

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