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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Gastgeber hatte es nach unten gerichtet, wie auf ein Ziel in geringerer Entfernung. Das bei weitem größte und am nächsten gelegene Bauwerk in dieser groben Richtung war Leicester House, das von hier aus wie ein großes, weitläufiges, L-förmiges Landgut aussah. Es stand auf seinem eigenen Grundstück, das fast genau so ausgedehnt war wie das südlich davon gelegene, grüne Gelände von Leicester Fields.
    »Bald wird die Nacht anbrechen und die Venus erstrahlen – dann werden wir ihre Schönheit bewundern. Doch während wir auf die Göttin der Liebe warten, könnten wir uns einstweilen damit bescheiden, uns ein paar ihrer irdischen Anhänger genauer anzuschauen.«
    »Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet Ihr ein Teleskop dafür braucht«, sagte Roger, »außer dem, das Gott Euch gegeben hat.«
    Leicester House präsentierte auf die Fields hinaus eine offizielle Fassade mit einem kleinen Vorplatz, wo Besucher aus ihren Kutschen aussteigen konnten etc. Das war alles, was die meisten Leute von ihm sehen konnten. Als Roger von diesem vortrefflichen Aussichtspunkt auf Bolingbrokes Dach, eine halbe Meile entfernt, darauf hinabsah, kam ihm wieder zu Bewusstsein, dass nach hinten hinaus noch ein ganzes Stück Gelände inmitten neuerer Gebäude dazugehörte, von dem die meisten Londoner gar nichts wussten. Ungefähr zwei Drittel davon, auf der dem Bolingbroke’schen Anwesen zugewandten Seite, bildeten einen geometrischen Garten. Der Rest war ein umschlossener Stallhof. Getrennt wurde beides durch einen langen, schmalen Trakt, der vom Haupthaus bis hierhin reichte – eigentlich kaum mehr als ein Laufgang.
    »Schade! Heute Abend sind sie nicht draußen«, bemerkte Bolingbroke.
    »Wer oder was ist nicht draußen, Henry?«
    »Die jungen Liebenden. Ein Bursche, kräftig, blond, gut betucht, und eine junge Frau, langes kastanienbraunes Haar und eine ungewöhnlich aufrechte – manche würden sagen adlige oder königliche – Haltung. Sie geben sich fast jeden Abend in diesem Garten ein Stelldichein.«
    »Rührend.«
    »Sagt mal, Roger, Ihr, der Ihr so viel wisst von diesen Deutschen, die die Macht in unserem Land zu übernehmen gedenken – seid Ihr Prinzessin Caroline schon einmal begegnet?«
    »Ich hatte schon mal die Ehre, anlässlich eines Besuchs in Hannover.«
    »Es heißt, sie habe die am hübschesten fallenden kastanienbraunen Haare – ist das wahr?«
    »Es ist eine angemessene Beschreibung.«
    »Ah, da ist sie nun!«
    »Da ist wer , Mylord?«
    »Die junge Dame, von der ich soeben sprach.«
    » Welche junge Dame, Mylord?«
    »Kommt, schaut durch und sagt es mir.«
    Einigermaßen widerwillig trat Roger vor.
    »Oh, kommt schon und schaut!«, drängte Bolingbroke ihn. »Es ist harmlos. Die Hälfte der Londoner Torys hat schon durch dieses Okular gespäht und sie gesehen.«
    »Das macht es wohl kaum zu einer Empfehlung, aber ich werde Euch den Gefallen tun«, sagte Roger und stellte sich der Aufgabe.
    Durch die winzige Linse des Okulars leuchtete eine Blase aus grünem Licht, die vor seinem Auge anschwoll, als er sich auf sie zubewegte; dann war sie seine ganze Welt. Ein kurzes Hantieren mit dem Knopf sorgte für die Scharfeinstellung.
    Der Laufgang, der den Garten (Vordergrund) vom Stallhof (Hintergrund) trennte, war in der Mitte von einer hoch überwölbten Passage durchbohrt: einem Tor, das gerade offen stand. So war Rogers Blick auf den Stallhof zwar durch den Laufgang versperrt, aber an dieser einen Stelle gab der offene Torweg den Blick frei auf einen schmalen Streifen gelben Kies im Hof dahinter. Das genügte, um zu erkennen, dass an diesem Abend in den Stallungen rege Betriebsamkeit herrschte: Hufe, Stiefel und Kutschenräder bewegten sich hin und her, alle durch die Optik des Teleskops zu einem Eindruck von Flachheit, einem lebendigen Prospekt, verkürzt. Vor dem eine einzelne Frau sichtbar wurde, die, mit einer Art Reiseanzug bekleidet, mitten in dem überwölbten Torweg kauerte. Sie zog gerade ihre Schuhe aus und schlüpfte in ein Paar Stiefel. Die Schuhe, die auf dem Pflaster neben ihr landeten, waren Pantoffel, die nur zum Tragen im Haus geeignet waren. Ein von Kleidern überquellender offener Reisesack lag nicht weit von ihr auf dem Boden. Plötzlich stürzte eine Dienerin ins Bild, stopfte das Kleid, das sie über dem Arm getragen hatte, in den Sack und fing an, dessen Inhalt mit dem Handballen zusammenzudrücken.
    »Das würde ich eine hastige Abreise nennen«, sagte Bolingbroke ihm ins Ohr. »Mehr

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