Principia
verlor sie diesen Reiter von Zeit zu Zeit aus den Augen. Aus dem nämlichen Grund konnten sie die Straße vor sich immer nur ein Stück weit einsehen, und jeder Schritt machte neue Komplikationen sichtbar.
»Als ich den Plan entwarf, konnte ich nicht wissen, an welchem Tag er zur Ausführung gelangen würde«, sagte Johann, »und so habe ich die Hinrichtungen nicht in Betracht gezogen.«
»Hinrichtungstag ist doch erst am Freitag, oder?«, fragte Caroline. Es war Mittwochabend.
»In der Tat. Morgen Abend würde ich erwarten, dass sich eine Menschenmenge entlang der Straße sammelt«, sagte Johann. » Heute Abend habe ich keine erwartet – aber -« Er verstummte, als sie um die letzte Kurve bogen. Einen Steinwurf von ihnen entfernt vereinigte sich die Monmouth Street mit zwei anderen Straßen, dem Zusammenfluss mehrerer Wasserläufe gleich, zu einer kurzen, aber sehr breiten Durchfahrt, die direkt in eine Art Platz namens Broad St. Giles’s mündete. Der Blick in diesen Bezirk wurde ihnen durch ein ausladendes, aber flaches Gebäude versperrt, das quer über ihrem Weg errichtet worden war, wie eine Sandbank in der Mündung eines Flusses. Unten war es aus Ziegelsteinen und oben aus Holz gebaut, es hatte ein pockennarbiges Ziegeldach und sah insgesamt so ärmlich aus, dass man es aus dieser Entfernung für einen Stall hätte halten können. Dafür hatte es allerdings ein paar Schornsteine zu viel, die alle schwankend dem Wetter trotzten, so wie ältere Sargträger, die sich einem stürmischen Wind entgegenstemmten. Auf der Johann und Caroline zugewandten Seite erstreckte sich über die ganze Breite des Hauses ein kleiner Vorhof, der von einer Veranda aus zu überblicken war. Dort saßen, auf verschiedenen Bänken verstreut, mehrere weißhaarige, graugesichtige Burschen. Das hier war das Armenhaus der Pfarrei, in dem Gemeindemitglieder, die ihr Vermögen durchgebracht, ihre Familie überlebt oder den richtigen Moment zum Abgang verpasst hatten, verwahrt werden konnten, bis die Zeit für eine dauerhafte Ruhestätte auf dem nahegelegenen Friedhof gekommen war. Man hatte es, aus welchem Grund auch immer, mitten auf die Kreuzung gebaut, sodass der Verkehr auf der Monmouth Street um das Haus herum geleitet werden musste.
Nun bedeutete es unter normalen Umständen eher einen gewissen Akt der Gnade, dass man von hier Broad St. Giles’s nicht einsehen konnte. Es war nämlich keine richtige Straße, aber auch kein Platz, sondern so etwas wie ein Siphon, der High Holborn (ging rechts ab in Richtung City of London) und die Oxford Street (links ab Richtung Tyburn Cross) verband. Als Bezirk von Greater London besaß er ohne Zweifel seine Geschichte und seine unbestreitbare Daseinsberechtigung, aber als Verkehrsader zwischen Tyburn und London war er nur ein bedauernswerter Notbehelf. Die Explosion von ein paar Pulverfässern in dem schmutzigen Hintergässchen an seiner Nordseite würde eine direkte Verbindungslinie zwischen den beiden großen Fahrstraßen schaffen und den Broad St. Giles’s zu einem stehenden, vom Hauptstrom abgeschnürten Gewässer degradieren; doch als Johann und Caroline darauf zuritten, lagen solche Verbesserungen noch in ferner Zukunft.
An diesem Abend war es jedenfalls gefährlich, dass man nicht sehen konnte, was vor einem lag. Das Viertel schien noch voller zu sein als sonst. Die Leute – zumeist umherstreifende Horden junger Männer – bildeten einen lockeren Strudel um die Fundamente des Armenhauses herum. Man hatte den Eindruck, dass es sie nirgendwohin zog, es sei denn, man betrachtete reine Belästigung als Richtung; manche starrten Johann und Caroline bereits an und zeigten mit den Fingern auf sie.
»Warum so viele Leute – wegen der Hinrichtung?«
»Viel zu früh – oh, wenn wir jemanden fragten , warum er hier ist, würde er vielleicht behaupten, wegen der Hinrichtungsprozession -«
»Das zu glauben, wäre aber naiv«, sagte Caroline. »Dann glaubt Ihr also, dass es so ist, wie Dr. Waterhouse angedeutet hat.«
»Ja, die Whigs und die Torys haben die Hinrichtung als Vorwand benutzt, um ihre Sympathisanten – wie immer Ihr sie nennen möchtet -«
»Miliz?«
»Vielleicht etwas weniger als Miliz und etwas mehr als reiner Pöbel. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall sind sie hier und bereiten sich darauf vor, Freudenfeuer zu entfachen -«
»Schaut, sie haben es bereits getan«, sagte Caroline.
Sie hatten die Stelle unmittelbar vor dem Vorhof des Armenhauses erreicht, an der der Weg sich
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