Principia
fliehenden Cellisten am Kragen zu erwischen, hielt am Ende aber ein Cello in der Hand. Sein Besitzer kreuzte Elizas Weg, als sie hineinging. Sie fürchtete nämlich, dass Händel sich gar nicht um die Gefahr kümmerte. Sie eilte durch den Orchestergraben, nahm ihm das Cello ab, stellte es auf den Stachel und wiegte den schmalen Hals in der Hand. »Lasst uns einen Weg nach draußen finden«, sagte sie. Sie streckte die Hand aus, um sie auf sein Achselstück zu legen, griff aber ins Leere, da der Komponist auf die Pauke zustürzte. »Überlassen wir doch diese gefährlichen Männer ihrem -«
Doch die Situation änderte sich von einem Augenblick auf den anderen. Jack hatte de Gex da, wo er ihn haben wollte, und holte gerade zu einem tödlichen Hieb aus, als der Maler geduckt herbeisprang und ihm einen ganzen Eimer mit weißer Farbe ins Gesicht schleuderte.
Einen Moment lang war es ganz still. Dann begann de Gex, um Jack herumzuhüpfen und sich in eine neue Position zu begeben: Er hatte sich schon angeschickt, in die Paukenabteilung zu springen, und jetzt musste er für einen Stich in Jacks Herz ausholen. Das hatte er fast geschafft, als Händel, der unterhalb von ihm im Orchestergraben stand, seinen Taktstock hochwarf, ihn mit beiden Händen an einem Ende auffing und kräftig um sich herum schwang wie ein Heumacher die Sense, wobei er de Gex mit solcher Wucht an einem Schienbein traf, dass der vom Blut schlüpfrig gewordene Fuß nach hinten und über den Rand der Bühne geschlagen wurde. Der Rest von de Gex folgte unmittelbar danach. Wild mit den Armen fuchtelnd fiel er rückwärts in eine Pauke. Ein Bein und ein Arm – sein Schwertarm – durchstießen das Trommelfell und blieben schließlich unter ihm in dem riesigen Kupferkessel stecken. Die übrigen Gliedmaßen reckten sich über dessen Rand hinaus wie die Scheren eines Hummers, der nicht gekocht werden will.
Händel war durch diesen kraftvollen Schwung aus dem Gleichgewicht geraten. De Gex schlug mit seinem freien Arm wild um sich und bekam die Spitzenkrawatte des Komponisten in seinen blutigen Griff. Um sich hochzuziehen, riss er fest daran. Eliza reagierte, bevor sie einen Gedanken fassen konnte. Ihre freie Hand sank auf den Steg des Cellos. Sie hob das Instrument hoch in die Luft, während ihre andere Hand dessen Hals zu Boden drückte, und dann schleuderte sie es in hohem Bogen quer durch den Orchestergraben. Es drehte sich, während es den Scheitelpunkt der Kurve passierte, und sauste herab wie ein Wurfspieß, das ganze Gewicht über dem Stachel konzentriert. Als es sich nicht mehr bewegte, saß es mit Schlagseite in de Gex’ Brust und gab einen gespenstischen Akkord von sich, während de Gex sein Leben aushauchte. Händels Krawatte hatte er losgelassen.
Der Komponist klaubte seinen Taktstock vom Boden auf und rückte seine Perücke zurecht. »Seite fünf, zweiter Takt!«, rief er. Aber die Musiker kamen erst allmählich zurück.
Eliza hob den Blick und sah dort, wo Jack gewesen war, einen großen Farbfleck und eine Spur aus weißen Fußabdrücken, die hinter die Bühne und zum Unicorn Court führte.
Sie musste an die Prophezeiung denken, auf die Jack angespielt hatte. Jack sprach von einer Prophezeiung; für ihre Begriffe war es eher ein offenes Versprechen gewesen. Sie hatte es Jack zwölf Jahre zuvor im Petit Salon des Hôtel Arcachon in Paris gegeben, mit Ludwig XIV. als Zeugen. Leider hatte sie den genauen Wortlaut vergessen. Es war mehr oder minder darum gegangen, dass Jack bis zum Tage seines Todes nie mehr ihr Gesicht sehen noch ihre Stimme hören sollte. Da Eliza es mit Versprechen und Verpflichtungen ziemlich genau nahm, ließ sie jetzt die vergangenen paar Minuten vor ihrem geistigen Auge Revue passieren und stellte befriedigt fest, dass dieses noch nicht gebrochen worden war. Zu keiner Zeit hatte Jack einen Blick auf sie erhascht, denn der war die ganze Zeit auf de Gex fixiert gewesen, jedenfalls bis er einen Eimer Farbe ins Gesicht bekommen hatte. Und sie hatte kein Wort gesprochen, das er hätte hören können.
Und jetzt war er weg und konnte sie weder hören noch sehen.
Sie wandte sich zum Saal um. Musiker und Schauspieler hatten sich in die entferntesten Ecken zurückgezogen und schauten sie an, als erwarteten sie ein Stichwort von ihr.
»Es ist jetzt sicher«, verkündete sie. »Jack Shaftoe hat das Gebäude verlassen.«
Golden Square
ZUR SELBEN ZEIT
» Was habt Ihr ihm erzählt?«, fragte Daniel.
»Ihr habt es doch gehört«,
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