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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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den Versammlungen der unabhängigen Gemeinden taten. Tatsächlich waren die Kirchenbänke der Newgate-Kapelle streng nach Stand getrennt. Gefangene von der Common-Side waren auf einer Seite des Mittelgangs eingepfercht, zur Linken des Geistlichen, wenn er auf seiner Eckkanzel stand. Die von der Master-Side gingen nach rechts. Schuldgefangene waren von Schwerverbrechern, Männer von Frauen getrennt in Kästen eingesperrt. Die allerbesten Plätze im Haus, gleich unter der Kanzel, waren jedoch der Aristokratie vorbehalten: Personen, die vor kurzem zum Tode in Tyburn verurteilt worden waren. Sie genossen den Luxus eines offenen Gestühls, an das sie allerdings angekettet waren wie Galeerensklaven an ihre Ruderbank.
    Die Fanatiker sagten, die anglikanische Kirche sei ein Ort des Todes, eine Pforte zur Hölle. Was nach Irrsinn klang; aber diese Kapelle hier war schwarz ausgehängt, in Leichentücher gehüllt. Unmittelbar vor dem Gestühl der Verurteilten, zwischen ihm und der Kanzel, befand sich ein stabiler Altar; was auf dem Tisch des Herrn lag, war jedoch kein Mahl aus Brot und Wein, sondern ein Sarg. Und damit sie die Botschaft auf jeden Fall begriffen, war der Deckel dieses Sarges entfernt worden, um deutlich zu machen, dass er leer war und auf einen Bewohner wartete. Den ganzen Gottesdienst hindurch gähnte er sie an, und der Geistliche ließ keine Gelegenheit aus, ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken.
    Die Fanatiker sagten, die Leute gingen nicht in anglikanische Kirchen, um das Wort Gottes zu hören und zu befolgen, sondern um zu sehen und gesehen zu werden. Es sei ein Schauspiel, nicht besser als eine Aufführung in einem Theater, eher insofern schlimmer, als Theaterstücke kein Hehl daraus machten, dass sie gemein und unzüchtig waren, während anglikanische Gottesdienste eine gewisse Heiligkeit für sich in Anspruch nahmen. Ein Anspruch, den der vordere Teil dieser Kapelle nur schwerlich geltend machen konnte, war er doch voller übelriechender Menschen in Kästen, die durch Gitter spähten. Doch als Jack es müde wurde, den offenen Sarg auf dem Altar anzustarren, und seinen Blick den Mittelgang entlangwandern ließ, fielen ihm in der hinteren Hälfte der Kirche mehrere Reihen offener Bänke auf, die mit Kirchgängern vollgepackt waren. Keine »Gemeindemitglieder«, wohlgemerkt, denn das wären Leute gewesen, die in oder um Newgate herum wohnten; in diesem Fall waren mit »Kirchgänger« vielmehr freie Londoner Bürger gemeint, die an diesem Morgen aufgestanden waren, ihren Sonntagsstaat angezogen und die bewusste Entscheidung getroffen hatten, hierherzufahren – an einen so ansteckenden Ort, dass schon Passanten auf der Straße tot umgefallen sein sollten, nachdem sie eingeatmet hatten, was durch diese Gitter herauswehte – und hier in einem ganz schwarz verhüllten Raum zu sitzen und einem Gefängnisgeistlichen zu lauschen, der stundenlang wirres Zeug über den Tod redete.
    Jack, dem falsche – ja eigentlich jede Art von – Bescheidenheit fremd war, wusste ganz genau, dass sie gekommen waren, um die Verurteilten und insbesondere ihn anzustarren. Er starrte genauso zurück. Der Geistliche hatte über eine Stunde lang ein paar lumpige Zeilen aus dem Brief des Paulus an die Römer erläutert. Niemand passte auf. Jack drehte sich nach hinten um und erwiderte nacheinander den Blick sämtlicher Kirchgänger, womit er sie dazu herausforderte, seinem Blick standzuhalten, und er gewann jedes Mal, und sie fielen bankweise um, wie Ziele beim Bogenschießen, die jemand oben auf einen Zaun gesteckt hatte. Außer einer allerdings, deren Gesicht hinter einem Schleier verborgen war. Es war dieselbe Frau, die gestern, nur um einen Blick auf ihn zu erhaschen, an das Janustor gekommen war. Bei der Gelegenheit war sie so schnell vorbeigelaufen, dass er sich ihr Bild nicht richtig hatte einprägen können. An diesem Sonntagmorgen hatte er eine gute Stunde Zeit, sie anzustarren. Ihr Gesicht mochte verborgen sein, aber dass sie reich war, konnte er ganz deutlich sehen; oben auf ihrem Kopf saß eine filigrane fontange , die ihrer Körpergröße noch sechs Zoll hinzufügte und als eine Art Großmast diente, von dem der Schleier herabfiel. Ihr Kleid war alles andere als farbenfroh, ja es war fast so dunkel und nüchtern wie Trauerkleidung, aber sogar auf die Entfernung konnte er den Glanz der Seide erkennen; der Stoff allein kostete wahrscheinlich schon so viel wie der gesamte Inhalt des Kleiderschranks einer

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