Prinz Charming
am besten.«
»Hast du Hunger?«
»Ja, ich glaube schon.«
Geduldig setzte sich Taylor zu der jungen Frau. Von Lady Esther hatte sie gelernt, wohlerzogene junge Damen dürften andere Leute niemals bedrängen. Und so wollte sie warten, bis Victoria von sich aus über ihre Probleme sprach.
Die plötzliche Scheu ihrer Freundin verblüffte sie. An Bord der Emerald hatten sie sich jeden Nachmittag in der Schiffsbibliothek getroffen. Freimütig berichtete Victoria von ihrer Familie und dem Mann, der sie hintergangen hatte, weigerte sich aber beharrlich, seinen Namen zu verraten. Ebenso offenherzig sprach sie von ihren Träumen und Hoffnungen. Taylor redete nie über sich selbst. Statt dessen erzählte sie Geschichten über die amerikanische Wildnis, die sie gelesen hatte.
Wegen des Gewittersturms dauerte die Schiffsreise länger als geplant. Zwölf volle Tage mußten sie an Bord verbringen. Während dieser Zeit war Victoria niemals schüchtern oder reserviert gewesen, und Taylor glaubte, die Freundin hätte ihr alle Geheimnisse anvertraut. Aber das war offenbar ein Irrtum.
Das Schweigen zog sich in die Länge. Victoria sah elend aus. Schließlich griff Taylor nach ihrer Hand und beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. »Gibt es irgend etwas, das du mir noch nicht erzählt hast? Etwas, das dir Kummer bereitet?«
»Nein.«
Taylor seufzte laut auf. »Also zwingst du mich dazu.«
»Wozu denn?«
»Meine guten Manieren zu vergessen und dich so lange zu bedrängen, bis du mir gestehst, was dich quält.«
Da begann Victoria zu schluchzen. »>Doch brich, mein Herz, denn schweigen muß mein Mund!<«
Schon wieder zitierte sie Shakespeare. Taylor verdrehte die Augen. Anscheinend verschanzte sich Victoria, wann immer sie ihre Lage für ausweglos hielt, hinter den poetischen Worten des großen Dramatikers.
»Also fällt es dir schwer, mir zu sagen, was dich bekümmert?« fragte Taylor.
Ihre Freundin nickte unglücklich.
»Sprich es doch einfach aus! Sonst finden wir keine Lösung für dein Problem.«
»Ich kann dieses Hotelzimmer nicht bezahlen.«
»Natürlich nicht, das weiß ich, und ich werde ...«, begann Taylor, aber Victoria ließ sie nicht ausreden.
»O Gott, ich fühle mich wie eine Almosenempfängerin!« jammerte sie. »Daheim in London hatte ich alles, was mein Herz begehrte, und jetzt bin ich bettelarm.«
Nachdenklich stand Taylor auf und wanderte umher, bis sie auf eine Idee kam, die ihr vernünftig erschien. »Das wird sich morgen ändern.«
»Wie meinst du das?« Victoria wischte sich die tränennassen Wangen mit dem Taschentuch ab, das Taylor ihr gegeben hatte.
»Morgen treffe ich die Banker meiner Großmutter und richte ein Konto für dich ein. Schon am Nachmittag bist du finanziell unabhängig.«
Entschieden schüttelte Victoria den Kopf. »Das kann ich unmöglich annehmen. Es wäre nicht richtig.«
»Ich habe doch versprochen, dir zu helfen.«
»Das hast du bereits zur Genüge getan.«
Taylor überlegte, wie sie ihre Freundin umstimmen könnte
- vielleicht mit einem Shakespeare-Zitat. Leider fiel ihr kein passendes ein, und so beschloß sie, eins zu erfinden. »Es ist besser, eine Gabe anzunehmen als abzulehnen - Shakespeare.«
»Das hat er nie gesagt«, protestierte Victoria.
»Aber er hätte es gesagt, wäre er länger am Leben geblieben. Bitte, Victoria, laß dir doch helfen! Du mußt auch an dein Baby denken.«
»Sicher finde ich bald Arbeit. Ich bin jung und stark ...«
»... und schwanger«, erinnerte Taylor ihre Freundin. »Ich
kann dir nicht erlauben, dein Baby zu gefährden. Und du würdest ihm ganz sicher schaden, wenn du Tag für Tag stundenlang arbeitest. Nein, Victoria, ich will keinen Widerspruch mehr hören. Du nimmst das Geld an, verstanden? Das wäre auch der Wunsch meiner Großmutter.«
Überwältigt von der Großzügigkeit ihrer Freundin, schaute Victoria zu ihr auf. An Bord der Emerald, im Augenblick höchster Not, war ihr Taylor wie ein rettender Engel erschienen, von überirdischer Güte.
Ein Engel mit vielen, nur allzu menschlichen Zügen, dachte sie lächelnd und erinnerte sich an Taylors Eigensinn, ihre oft etwas autoritäre Art. Plötzlich erkannte sie, wie wenig sie von Taylor wußte. »Auf dem Schiff saßen wir oft stundenlang beisammen, und ich erzählte dir meine ganze Lebensgeschichte. Damals war ich vollauf mit meinen eigenen Problemen beschäftigt, und deshalb merke ich erst jetzt, wie selten du von dir selbst sprichst. Warum tust du so
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