Prinz Charming
Vermutlich plante Taylor, sie gemeinsam mit den Bostoner Verwandten großzuziehen.
Doch die Zukunft spielte vorerst keine Rolle. Nur die Gegenwart zählte. Und wenn es sein mußte, würde er durch die Hölle gehen, um die Babys aufzuspüren.
Diesmal soll das Böse nicht siegen... Auf der Zugfahrt nach Cincinnati sagte er sich diese Worte immer wieder vor, ohne zu wissen, ob er den Allmächtigen damit beschwören oder herausfordern wollte.
Hunter wartete auf dem Bahnhof, was Lucas für ein gutes Zeichen hielt. Sein Freund sah reisemüde aus, Staub bedeckte das braune Hemd und die Hose in der gleichen Farbe. Wie Lucas trug er einen Waffengurt, was im Westen Verwunderung erregte. Die meisten Männer steckten ihre Pistolen einfach in die Tasche oder in den Hosengürtel.
Von seiner Großmutter, einer Crow-Indianerin, hatte der hochgewachsene, knochendürre Hunter sein blauschwarzes Haar und die dunklen Augen geerbt, aber auch sein ruhiges Wesen und eine moralische Grundhaltung, der nur wenige
Menschen entsprechen konnten. Wie sein Freund war er als Geächteter aufgewachsen. Lucas hatte man vorgeworfen, er sei ein verwaister Bastard, und Hunter wegen seines Mischlingsbluts verhöhnt.
Schon in früher Kindheit waren sie Freunde geworden, vereint durch ihre Einsamkeit. Im Lauf harter, beschwerlicher Jahre festigte sich die Freundschaft. Hunter kehrte in die Isolation der Berge zurück, und Lucas folgte ihm nach dem Krieg. Unverbrüchlich hielten sie sich die Treue. Und jeder hatte dem anderen mehrfach das Leben gerettet. Hunter war der einzige Mann, den Lucas hinter seinem Rücken duldete. Und Lucas zählte zu den wenigen, mit denen Hunter sprach. In letzter Zeit war er zum Einsiedler geworden.
Taylor warf nur einen kurzen Blick auf die furchterregende Erscheinung, dann trat sie näher zu ihrem Mann. Wie eiskalt und gefährlich Mr. Hunter aussah ... Er tippte sich an den Hut, als Lucas ihn mit seiner Frau bekannt machte. »Madam ...« Dann wandte er sich wieder zu seinem Freund. »Es gibt mehrere Möglichkeiten.«
»Das dachte ich mir.« Lucas umfaßte Taylors Ellbogen und wollte sie aus dem Bahnhof führen, doch sie rührte sich nicht von der Stelle, ehe sie Hunter gedankt hatte.
»Wie Lucas mir erzählte, verlassen Sie die Berge nur selten Mr. Hunter. Wahrscheinlich halten Sie mich für albern, aber ich glaube, der Himmel hat Sie in die Nähe von Cincinnati geschickt - was auch immer Sie zu dieser Reise veranlaßt hat. Wir brauchen dringend einen weiteren klugen, starken, erfahrenen Mann. Und ich möchte Ihnen ganz herzlich für Ihre Hilfe danken.«
Diese Worte verschlugen ihm die Sprache. Daß sie ihn so schnell und rückhaltlos akzeptierte, verblüffte ihn maßlos. Er starrte sie einfach nur an, fragte sich, ob sie noch etwas hinzufügen würde, und sie ließ ihn nicht lange warten.
»Mein Mann erwähnte, Sie seien der zweitbeste Fährtenleser von Amerika.«
Nach dieser Bemerkung erlaubte sie Lucas, sie vom Bahnsteig zu geleiten, und Hunter begleitete sie. »Der zweitbeste? Und wer ist der beste?«
Lächelnd schaute sie ihn an. »Lucas. Zumindest hat er das behauptet.«
Er wußte nicht recht, ob sie es ernst meinte oder scherzte. Jedenfalls hielt er es für seine Pflicht, die Sache klarzustellen. »Da irrt sich Ihr Mann, Ma’am. Er ist der zweitbeste.«
Darauf ging Lucas nicht ein. Statt dessen erklärte er seinem Freund: »Wir bringen Taylor ins Hotel und dann ...«
»Ich möchte mit dir kommen«, fiel sie ihm ins Wort.
»Unsinn! Du brauchst deinen Schlaf. Merkst du denn nicht, daß du kaum noch stehen kannst? Im Zug habe ich immerhin ein paar Stunden gedöst. Du nicht.«
»Aber ich fühle mich gut, wirklich.«
»Verdammt, wenn du dich nicht ausruhst, wirst du noch krank.«
Diese Debatte hätte noch eine Weile gedauert, doch nun mischte sich Hunter mit einem unwiderlegbaren Argument ein. »Ohne Sie kommen wir viel schneller voran, Ma’am.«
Sofort stimmte sie zu. »Gut, dann warte ich im Hotel.«
So schwer ihr dieser Entschluß auch fiel, sie wußte, daß er richtig war. Sicher würden die beiden Männer diesen oder jenen Ort aufsuchen, wo eine Dame unwillkommen war. Und dann müßte Lucas ständig seine Frau im Auge behalten, statt sich auf die Suche nach den kleinen Mädchen zu konzentrieren.
Er begleitete Taylor ins Hotelzimmer und warf ihren Koffer aufs Bett. Dann lud er seine Pistolen nach, stürmte wieder hinaus, nahm sich nicht einmal die Zeit für einen Abschiedskuß.
Eine Stunde lang
Weitere Kostenlose Bücher