Prinz Charming
immerhin, die Abenteuer und Mutproben, die der Junge bestehen mußte, spannend zu schildern. Fasziniert hörte sie zu, und einmal lachte sie laut auf, als er berichtete, wie der Junge vor einem Schwarzbären geflohen und einen Baum hinaufgeklettert war.
»Auch Bären können auf Bäume steigen«, erinnerte sie ihn und fragte sich, wie er den Helden seiner Geschichte aus dem Dilemma befreien würde.
Mit Einzelheiten hielt er sich nicht auf, sondern erklärte nur, der Junge habe den Bären notgedrungen getötet, um seine Suche fortsetzen zu können.
Weil Taylor nicht unhöflich sein wollte, verbarg sie ihre Skepsis. Lucas beendete die Geschichte nicht wie erwartet, indem er behauptete, das Messer sei wieder aufgetaucht. Statt dessen erwähnte er nur, der Junge habe den Indianer gefunden.
Sie vermutete, das Messer wäre für immer verloren gewesen. Und die Moral von der Geschichte? Wahrscheinlich hatte Lucas andeuten wollen, wie wichtig es sei, Mut und Ausdauer zu zeigen. Natürlich weigerte sich ihr logischer Verstand, zu glauben, er hätte eine wahre Begebenheit erzählt.
Nachdem er ausgiebig gegähnt hatte, schlief er ein. Auch ihr fielen die Augen zu.
Nach einer Stunde erwachte sie. Ganz vorsichtig, um ihren Mann nicht zu stören, stand sie auf und schlich ins Nebenzimmer. Warum sie das tat, wußte sie nicht genau. Vielleicht wollte sie sich vergewissern, daß Hunter immer noch da war.
Er schlief auf der königsblauen Decke, eine Hand unter dem Kissen, mit nacktem Oberkörper. Auch die Schuhe hatte er ausgezogen. Durch das offene Fenster wehte ein kühler Wind herein. Vielleicht brauchte der Mann frische Luft, aber er hatte wohl nicht bedacht, wie kalt die Nacht war. Taylor erschauerte und konnte sogar ihre Atemwolke sehen.
So leise wie möglich schloß sie das Fenster, dann nahm sie eine Wolldecke aus dem Schrank und breitete sie über Lucas’ Freund aus. Da er auf dem Bauch lag, bemerkte sie die Narben auf seinem Rücken und den Schultern. Seine Hand unter dem Kissen bewegte sich ein wenig, aber Taylor glaubte nicht, daß sie ihn geweckt hatte. Fröstelnd kehrte sie in ihr eigenes Bett zurück und ließ sich von ihrem Mann wärmen.
Sobald sie den Nebenraum verlassen hatte, umklammerte
Hunter wieder den Griff seines Revolvers, der unter dem Kissen lag. Er war hellwach gewesen, sobald sie die Schwelle überquert hatte.
Ihr fürsorglicher Entschluß, ihn zuzudecken, verblüffte ihn. Wie lieb und rücksichtsvoll - und wie leichtsinnig! Ich hätte sie erschießen können, dachte er, dann seufzte er. Nein, das wäre nicht geschehen. Die ganze Zeit hatte er gewußt, daß Taylor zu ihm gekommen war. Er hörte ihr Seidenkleid rascheln, roch den schwachen Blumenduft, als sie sich über ihn neigte, spürte die zarte Berührung ihrer Finger, während sie die Decke über seinen Körper breitete. Und dann hatte er den leisen Schritten gelauscht, als sie wieder hinausgegangen war. Welch ein angenehmes Gefühl, ein bißchen umsorgt zu werden ... Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er wieder ein.
Am Morgen umarmte Taylor nicht ihren Mann, sondern das Kissen. Sie lag allein im Bett, und wie die tiefe Stille in beiden Räumen verriet, hatten sich die zwei Männer wieder auf die Suche gemacht.
Eine Zeitlang blieb sie noch im Bett und schmiedete Pläne für diesen Tag. Erst einmal wollte sie den Zugfahrplan lesen und feststellen, wann Victoria ankommen würde. Wenn keine unvorhergesehenen Probleme auftauchten, müßte die Freundin mit dem Vier-Uhr-Zug eintreffen.
Immer wieder wanderten Taylors Gedanken zu den Kindern. Wurden sie gut betreut? Hatten sie genug zu essen? O Gott, wenn ihnen jetzt, in diesem Augenblick, ein Leid angetan wurde, während sie selbst...
Entschlossen verdrängte sie ihre Angst, schickte ein stummes Gebet zum Himmel und bat den Allmächtigen, den Babys einen Schutzengel zu schicken. Wenn sie sich unentwegt ausmalte, was ihnen zustoßen könnte, würde sie tat-sächlich den Verstand verlieren. Und so bemühte sie sich, an etwas Angenehmes zu denken.
Lucas’ Geschichte fiel ihr ein, und bei dieser Erinnerung lächelte sie. Was für ein haarsträubendes Märchen hatte er da erfunden ... Wenn er sich einbildete, sie würde diesen Unsinn glauben, mußte er sie für sehr naiv halten.
Auf der Suche nach seinem Messer hatte der Junge nicht nur einen Bären getötet. Er überstand einen Orkan, der Bäume entwurzelte, ertrank beinahe in einer Sturmflut und teilte sich ein selbstgebautes Boot mit
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