Prinz der Nacht
weigerte er sich, das genauer zu erklären. Die Götter des Schlafs konnten einen fast genauso frustrieren wie die Orakel.
»M' Adoc, zeig mir, warum Zarek von allen gemieden wird.«
»Das willst du nicht wissen ... «
»Doch«, beharrte sie. Sie musste es erfahren. Und sie fürchtete, das würde nicht so unmittelbar mit ihrem Job zusammenhängen, wie sie es wünschte. Ihre Neugier war eher privater als beruflicher Natur.
»Es verstößt gegen die Regeln«, erwiderte M ' Adoc in emotionslosem Ton.
»Darum musst du dich nicht kümmern. Ich nehme die Konsequenzen auf mich. Bitte, zeig es mir.«
Er führte sie zu ihrem Bett, und sie legte sich hin. Um jemanden in tiefen Schlaf zu versetzen, benutzten die Dream Hunter verschiedene Methoden, entweder ein Serum oder den Nebel des Wink, eines Schlafgotts von niedrigem Rang.
Schon seit langer Zeit verwendeten die Oneroi diesen Nebel, um die Menschen zu kontrollieren. Ganz egal, welches Mittel sie wählten - die Wirkung trat unverzüglich ein.
Welche Praktik M ' Adoc bei Astrid anwandte, wusste sie nicht. Jedenfalls schwebte sie in Morpheus' Arme, sobald sie die Augen geschlossen hatte. In diesem Reich gewann sie ihr Augenlicht zurück, selbst wenn sie gerade einen Auftrag erfüllte. Deshalb liebte sie es, in solchen Situationen zu träumen.
M' Adoc erschien an ihrer Seite, schöner dennje. »Bist du sicher?«
Schweigend nickte sie, und er geleitete sie durch mehrere Türen in den Saal von Phantosis. Hier konnte ein Kallitechnis oder Traummeister alle Träume durchleuchten, in der Vergangenheit oder in der Zukunft, in Regionen jenseits des menschlichen Begriffsvermögens.
M' Adoc blieb vor einer Tür stehen. »Soeben träumt er von seiner Vergangenheit.«
»Das will ich sehen.«
Er zögerte, als würde er einen inneren Konflikt ausfechten. Schließlich öffnete er die Tür, und Astrid überquerte die Schwelle. An M ' Adocs Seite blieb sie stehen, weit entfernt von den Anwesenden, die sie nicht sahen oder spürten.
Diese Maßnahme wäre nicht nötig gewesen. Doch sie wollte sichergehen, dass sie nicht in Zareks Traum eingriff.
Nur wenn die Oneroi oder Skoti es wünschten, wurden sie von den Träumern wahrgenommen. Und sie wusste nicht, ob sie, eine Nymphe, für Zarek unsichtbar war. Sie schaute sich in ihrem Traum um und war verblüfft, weil die Szene so real wirkte. In den meisten Träumen anderer Leute tauchten nur skizzenhafte Bilder auf. Aber hier sah sie alles so kristallklar wie in der wirklichen Welt.
Drei kleine Jungen versammelten sich in einem antiken römischen Atrium. Etwa vier bis acht Jahre alt, hielten sie Stöcke in den Händen, lachten und schrien. »Koste es, koste es ! «
Nun stürmte ein vierter, ungefähr zwölfjähriger Junge an Astrid vorbei. Mit schwarzem Haar und strahlend blauen Augen glich er dem Mann, den Sashas Sehkraft ihr gezeigt hatte. »Ist das Zarek?«
M' Adoc schüttelte den Kopf. »Sein Halbbruder Marius.«
Grinsend rannte Marius zu den anderen.
»Das wird er nicht tun, Marius«, meinte einer der Jungen und stocherte mit seinem Stock am Boden herum.
Marius riss den Stock aus der Hand seines Bruders und stach in einen Klumpen. »Was ist los, Sklave? Bist du dir zu gut, um Abfall zu essen?«
Erst jetzt bemerkte Astrid das Kind, das in Lumpen gekleidet am Boden kauerte. Atemlos beobachtete sie, wie die Jungen den Kleinen zwingen wollten, verfaulten Kohl zu essen. Zitternd und gekrümmt, legte er seine Hände über den Kopf, seine Peiniger schlugen ihn unentwegt mit ihren Stöcken. Als er sich nicht rührte, beschimpften sie ihn unflätig.
»Wer sind diese Kinder?«, fragte sie.
»Zareks Halbbrüder«, antwortete der Oneroi. »Marius kennst du schon. Der blau gekleidete Junge mit den braunen Augen ist Marcus. Wahrscheinlich neun Jahre alt. Ludus, der Jüngste in den roten Kleidern, wurde soeben fünf. Und der Achtjährige heißt Aesculus.«
»Wo ist Zarek?«
»Er kauert am Boden, die Hände über dem Kopf.«
Obwohl sie es bereits geahnt hatte, zuckte sie entsetzt zusammen und konnte ihren Blick nicht von Zarek losreißen.
So grausam sie ihn auch verprügelten und verhöhnten, er rührte sich nicht. »Warum quälen sie ihn?«
In M ' Adocs Augen erschien tiefe Trauer und verriet ihr, dass er sich Zareks Gefühle angeeignet hatte. »Weil sie dazu fähig sind. Ihr Vater, Gaius Magnus, beherrschte seine Untertanen, auch seine Familie, mit eiserner Faust. Eines Nachts tötete er die Mutter der Kinder, nur weil sie es
Weitere Kostenlose Bücher