Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
etwas in die Hand. „Glaube nicht, dass die Nacht dir Böses will.“ Es war ein Zettelchen, das Skaia erst zweimal auseinander falten musste, bevor sie darauf lesen konnte:
„Nachthimmel
breitet sich über uns aus
in einer großen mütterlichen
Bewegung
so gehen wir
für einen Augenblick behütet“
Sie würde viele Augenblicke brauchen, bis sie an ihr Ziel kam. Wenn sie es überhaupt erreichen würde. Half ihr da so ein kleiner Zettel? Dennoch sagte sie „Danke“ und ließ sich noch einmal drücken. Bei dem tapferen Lächeln, das die dunkle Frau ihr schenkte, war sich Skaia auf einmal sicher, dass sie den Zettel gerne wieder ansehen und dabei an Gura denken würde.
„Jetzt aber los“, mahnte sie Mikolo, als der sich noch einmal in Guras Arme warf. Nur zögernd löste er sich. Die Blaukappe schien unternehmungslustiger. Sie erkundete schon die ersten Meter des Weges, der sich vor ihnen ins Dunkel schlängelte, dem Bächlein zu. Skaia und Mikolo folgten. Hinter ihnen blieben Papa und sein gesamtes „Papp-Palast“-Ensemble zurück.
Am Bach entlang war es angenehm zu gehen. Wenn sie Durst hatten, konnten sie sich einfach bedienen und mussten nicht die Vorräte anbrechen. Viel sprachen sie nicht. Ab und zu nestelte Mikolo an seinem Kreppkragen, was stets ein scheuerndes Geräusch verursachte. Blitzte mal wieder blendendes Licht um sie herum auf, stießen sie überrascht ein „Ah“ oder „Oh“ hervor ― obwohl sich Skaia vorgenommen hatte, nicht schreckhaft zu sein. Sie wollte einen kühlen Kopf bewahren. Würde sie sich von allem Unbekannten, das ihnen begegnete, ins Bockshorn jagen lassen, kämen sie in Teufels Küche.
Selbst im fahlen Mondlicht war von weitem zu erkennen, was auf dem Schild stand, das an der Weggabelung stand: „Überzeh“. Der Pfeil wies in die Richtung, die vom Bachlauf wegführte.
„Schau, das ist einfacher als gedacht“, sagte Skaia zu Mikolo und war froh über die unerwartete Hilfe.
„Dann ist es vielleicht gar nicht mehr weit.“
Skaia hoffte, dass Mikolo Recht hatte. Viel Spaß machte es ihr nicht, durch die Nacht zu wandern. Bei den Theaterleuten hatte sie es nicht so tragisch gefunden, dass sie immer nur die nächsten zehn Meter vor sich gut erkennen konnte. Schließlich wusste sie ja, wo welcher Wagen stand und zu wem er gehörte. Aber hier in der freien Natur? Sie mussten auf alles Mögliche gefasst sein. Noch dazu blieb Mikolo samt seiner Blaukappe dauernd hinter ihr.
„Sag mal, wäre es nicht besser, dein kleiner Freund da“, Skaia deutete auf das Flämmchen, „würde nach vorne gehen und den Weg beleuchten?“
„Ich glaube, er will lieber neben mir bleiben.“
Skaia wandte sich direkt an das Lichtlein. „Werte Blaukappe, wie sieht es aus? Magst du uns helfen, damit wir mehr sehen?“
Das Flämmchen rührte sich nicht vom Fleck.
„Wahrscheinlich ist es taub. Oder stockdumm“, dachte sich Skaia. Sie musste auch weiterhin vorangehen.
Kaum hatten sie sich vom Bach entfernt, wirkte das Gras der Wiesen weniger saftig und sanft. Statt Holunderbüschen, die immer wieder das Ufer gesäumt hatten, wucherten jetzt neben ihnen Gewächse mit spitzen Blättern. Statt dem Glucksen des Wassers war nur noch Surren und Sirren zu vernehmen, das aus dem dichter werdenden Gebüsch drang, und einmal das Gekreisch eines Rabenschwarms nicht weit über ihren Köpfen.
„Schau mal, Skaia, eine Stechpalme. Das ist die Pflanze von Guras Mondzeichen!“ Vorsichtig betastete Mikolo die wächsernen Blätter und die kleinen, korallenroten Beeren. „Schade, dass sie giftig sind.“
Erst bog Skaia die Zweige, die in den Weg herein hingen, mit den Händen zurück. Nachdem sie sich ein aber paar Mal gestochen hatte und ein Strauch einen klebrigen Saft auf ihren Fingern abgesondert hatte, duckte sie lieber den Kopf, drehte die Schulter weg und hob die Beine, um auszuweichen. Eine Weile wurde Skaia von einer fetten Fliege umschwirrt, die sich auch durch Schläge in die Luft nicht verscheuchen ließ. Erst als Skaia sie mit dem Handrücken traf, verschwand sie. Da tauchte ein weiteres Schild vor ihnen auf. Genau dort, wo sich der Weg erneut teilte.
„Ist ja toll, dass hier mitten im Gebüsch Wegweiser stehen“, meinte Mikolo.
„Ja, erstaunlich“, sinnierte Skaia. In Solterra hätte sie keine Sekunde lang darüber nachgedacht, denn da war alles ausgeschildert. Da hätte man sogar vor dem Zypressenwäldchen eine Tafel angebracht: „Vorsicht! Wandernder Wald“.
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