Professionelle Intelligenz - worauf es morgen ankommt
galt früher schon, nicht erst heute. Aber heute haben ja nicht einmal die Eltern noch richtig Zeit. Ich erinnere mich an ein einziges Mal, dass ein Gymnasiallehrer mit mir sprach. In der zehnten Klasse musste ich zum Direktor. Es war ein Donnerstag. Der fragte mich, ob ich eine Klasse überspringen wollte. Ich sollte meine Eltern fragen. Am Freitag sagte ich Ja. Er sagte mir, ich solle mich am Montag in der 11 ml wie Mathe/Latein melden. Das tat ich. Niemand wusste etwas davon. Wohl zehnmal stand ich peinlich da. »Ich bin der Neue.« Sie trugen mich ein, ohne Worte, kein einziges Wort, kein herzliches Willkommen. Ich werde das nie vergessen. Ich saß da, schwieg, gab auf Anfrage richtige Antworten …
Wie schön wäre es, es gäbe einmal ein kümmerndes Feedback! Das habe ich dann von meinem Doktorvater Rudolf Ahlswede erfahren, der vor Kurzem verstarb. Er war ein schwieriger Charakter, sehr leidenschaftlich und immer auf Konfrontation mit Kollegen. Auch uns fasste er nicht zimperlich an. Aber er diskutierte mit uns jede freie Minute. Wir haben im Juli 2011 einen Memorial-Day für ihn, und wir werden »alle« kommen und sehr andächtig sein. Er hat uns beigebracht, nach den wissenschaftlichen Sternen zu greifen.
Als ich 1987 zu IBM kam, stellte mich Rainer Janßen ein, heute CIO bei der Münchner Rückversicherung – noch ein Glücksfall in meinem Leben. Er leitete mich wirklich in den ersten Jahren meiner IBM-Zeit! An die Gespräche über mich, meine Zukunft und meine Projekte, an die hitzigen Diskussionen beim Eintopf in der Minikantine erinnere ich mich heute noch mit vollem Herzen.
Heute ist keine Zeit mehr, alle Zeit geht für Statusmeetings drauf, überall! Die Teams oder Abteilungen arbeiten von verschiedenen Orten aus, manche haben ihre schnell wechselnden Chefs nie persönlich gesehen. Die vernetzte Arbeit macht das nicht zwingend notwendig! Ich sagte ja schon, dass wir in Projekten und Task-Forces arbeiten oder für Prozesse verantwortlich sind. Wir arbeiten immer mehr auf uns selbst gestellt und bekommen unseren Chef noch weniger als früher zu Gesicht.
Wir bekamen früher unsere Vorbilder zu Gesicht! Wir gingen zu Konferenzen und Kolloquien, bei denen berühmte Leute zum Anfassen nah Vorträge hielten. Wir konnten spüren, was die Gurus dachten, wir konnten sie uns zum Beispiel nehmen. Wir wurden oft inspiriert! Das alles wird heute eingespart.
Bei IBM versuchen wir seit vielen Jahren, allen Mitarbeitern nahezulegen, sich einen bis drei oder vier Mentoren zu suchen, also erfahrene Mitarbeiter, die sie sich zum Vorbild nehmen könnten. Sie sollten sich ein paarmal im Jahr mit ihnen zusammensetzen und diskutieren. Wir schaffen es wirklich, dass vielleicht die Hälfte der Mitarbeiter sich aktiv um Mentoren kümmert. Viel Zeit verbringen sie dann nicht mit den Mentoren. Ich seufze. Die Zeit rennt uns davon, die Arbeitsdichte wird überall in jeder Firma immer größer, sodass wir in einer Atempause eher verschnaufen als einen Mentor aufsuchen. Das aber sollten wir tun!
• Mentoren zeigen »die verschiedenen Wege zu den Sternen«, sie beraten ihre Mentees in Bezug auf ihre Talente und xQs.
• Sie ebnen die Wege zu neuen Aufgaben.
• Sie sorgen für neue Erfahrungen und »Tapetenwechsel«.
• Sie stellen ihre Mentees überall vor und verschaffen ihnen Zugang zu ihren Netzen und Fachgruppen.
• Sie schicken ihnen relevante Informationen und diskutieren sie durch.
• Sie ermuntern auf jede erdenkliche Art, über den Tellerrand zu schauen.
• Sie sind eine Art gütige(r) Vater/Mutter, die der echte Vorgesetzte heute oft nicht sein kann.
Bei IBM möchten wir, dass jeder mehrere Mentoren hat, am besten welche von verschiedenem professionellem Typ und mit jeweils anderen xQs. Das geht gut, »wenn es gelebt wird«. Ich sagte aber schon, dass oft keine Zeit dafür ist, aber wenigstens ist es ein gangbarer Weg. Wer ihn gehen will, kann ihn gehen. Er muss nur Zeit aufwenden!
Zeit wird immer kostbarer. Heute sagen viele in tiefer Dankbarkeit: »Danke für Ihre Zeit«, wenn Sie mit jemandem einfach einmal jenseits offizieller Tagesordnungen sprechen konnten. Wann hat heute jemand für unsere Seele, für unsere Träume, unsere Ideen oder unsere Sinnvorstellungen Zeit?
Wie schon gesagt, ich interviewe seit langer Zeit Kandidaten für ein Hochbegabtenstipendium der deutschen Studienstiftung. Die guten Kandidaten sind fast immer die, die noch Zeit für alles andere haben, nicht gerade für alles
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