Profit
das karge Terrain geschlagen und so frisch mit Asphalt bedeckt, dass sie wie ein langes Lakritzband aussah. Die leuchtend gelben Markierungen waren noch nicht gezogen, und sie fuhren wiederholt an rohen weißen Felswänden vorbei, die immer noch klar umrissene Rillen aufwiesen, wo die Sprenglöcher eingelassen worden waren. Ein Schild verkündete Meeresbeobachtungsstation Gjerlow – 15 Kilometer. Carla seufzte und rutschte auf ihrem Sitz herum. Kirsti fuhr den großen Volvo-Geländewagen mit einer Vorsicht, die Carla mit ihrem von den Londoner Straßen geprägten Fahrinstinkt etwas lächerlich vorkam. In der vergangenen Stunde hatten sie fünf andere Fahrzeuge gesehen, drei davon standen an einer Tankstelle.
»Tunnel«, rief ihre Mutter fröhlich. »Handschuhe.«
Carla griff nach ihren Fausthandschuhen. Es war dies der zweite Tunnel auf ihrer Fahrt. Beim ersten Mal hatte sie die Warnung ihrer Mutter ignoriert. Sie waren noch keine zweihundert Kilometer innerhalb des nördlichen Polarkreises, und das Wetter hatte sich, seit sie vor zwei Tagen in Tromsö aus dem Flugzeug gestiegen war, von einer durchaus angenehmen Seite gezeigt, doch die Tunnel waren eine Sache für sich. Im Innern der Bergfelsen fuhr einem, kaum war man hundert Meter weit vorgedrungen, eine Eiseskälte in Lunge und Finger.
Kirsti schaltete die Scheinwerfer an, und dann stürzten sie sich in die natriumgelbe Dunkelheit hinein. Ihr Atem gefror und wurde über die Schultern nach hinten gepeitscht.
»Jetzt wird dir kalt, was?«
»Ein bisschen. Mama, mussten wir wirklich den ganzen Weg hierher kommen?«
»Ja. Wie gesagt, es ist die einzige Möglichkeit, ihn zu Gesicht zu bekommen.«
»Du konntest ihn nicht nach Tromsö einladen?«
Kirsti verzog das Gesicht. »Jetzt nicht mehr.«
Carla versuchte sich züchtig das Lachen zu verkneifen. Kirsti Nyquist war längst über fünfzig, doch war sie eine noch immer auffallend attraktive Frau und wechselte ihre Liebhaber mit brutaler Regelmäßigkeit. Sie entwickeln sich einfach nicht mit mir mit, hatte sie sich einmal bei ihrer Tochter beklagt. Vielleicht liegt das daran, dass sie alle deine Söhne sein könnten, hatte Carla, ein bisschen unfair, entgegnet. Ihre Mutter hatte durchaus eine Vorliebe für jüngere Männer, doch betrug der Altersabstand in der Regel nicht mehr als zehn Jahre, und Carla musste ihrerseits zugeben, dass die männlichen Kandidaten in der Altersklasse fünfzig und darüber nicht übermäßig ansehnlich waren.
Der Tunnel war sechs Kilometer lang. Sie erreichten das andere Ende mit klappernden Zähnen, und Kirsti stieß einen Jubelschrei aus, als sie wieder hinaus in das zerbrechliche Sonnenlicht fuhren. Der Temperaturwechsel schien tropische Hitze in Carlas Körper sickern zu lassen. Der Frost aber saß tief in den Knochen. Sie versuchte ihn abzuschütteln.
Mensch, reiß dich zusammen, Carla.
Bereits jetzt vermisste sie Chris, und sie schalt sich selbst für dieses Mangelgefühl, denn es erschien ihr ausgesprochen armselig im Vergleich zu der vergnügten emotionalen Autarkie ihrer Mutter. Die Wut auf ihn, die sie aus dem Haus getrieben hatte, verflüchtigte sich bereits, als ihr Flugzeug vom Boden abhob, und als sie in Tromsö landete, war von dem ganzen Aufruhr nichts geblieben als gefühls- und alkoholseliges Gerede über Distanz und Verlust.
Und aus diesem Gefühlschaos, das ihre Tochter ihr in der Nacht ihrer Ankunft vor die Füße warf, hatte Kirsti die Möglichkeit sinnvoller Gegenmaßnahmen entwickelt. Carla fragte sich vage, was man wohl tun musste, um eine derartige praktische Handlungsfähigkeit zu erlangen – ein Kind bekommen, ein Buch schreiben, das Ende einer Beziehung erleiden? Was brauchte es dafür?
»Da ist es.« Kirsti zeigte nach vorn, und Carla sah, dass die Straße abfiel, um an einen kleinen, gedrungenen Fjord zu gelangen. Auf dessen anderer Seite standen mehrere Institutsgebäude dicht beisammen, hell aufleuchtend in einem wandernden Sonnenstrahl. Es sah so aus, als würde die Straße ganz bis zum Ende der Bucht und dann auf der anderen Seite wieder zurück bis zu der Beobachtungsstation führen.
»Und das hier ist auch alles neu?«
»Hierher verlegt. Bis letztes Jahr waren sie auf den Faröern stationiert.«
»Warum denn?« Carla erinnerte sich. »Oh, ach ja. Die BNR-Sache.«
»Richtig, deine geliebten Briten und ihre nukleare Wiederaufbereitung. Gjerlow rechnet damit, dass die Gewässer in der Umgebung auf mindestens sechzig Jahre kontaminiert
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