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Projekt Armageddon

Projekt Armageddon

Titel: Projekt Armageddon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Sterbedatum. Ah, Moment – auch auf der ersten Akte war kein Todestag vermerkt worden.
    Ash runzelte die Stirn und nahm die erste Akte wieder zur Hand. Sie blätterte die erste Seite auf. Besagte Hjördis war die Tochter einer Brynhildr und ihres Mannes, der offensichtlich eine Art Stammesfürst oder König gewesen sein musste. Brynhildr wiederum war die Tochter einer gewissen Jörd und eines Mannes namens Wälse. Hinter seinem Namen tauchte eine ganze Liste von Aliasen auf. Wahrscheinlich ein früher Heiratsschwindler. Nette Familie.
    Ash blätterte zum Schluss der Akte und sah, dass auch dieses Schriftstück unvollständig war. Kein Tod, kein Abschluss, sondern ein Pfeil und ein weiteres Aktenzeichen. Sie schaute die Ordner an, die auf dem Tisch vor ihr lagen. Ja, die korrespondierende Akte war ebenfalls dabei. Auf ihrem Deckblatt stand wieder: »Hjördis Brynhildardottir«, aber ein anderes Datum. Wie absurd!
    Ash begann, methodisch Akte für Akte durchzusehen: Deckblatt, Verweis auf der letzten Seite, nächstes Deckblatt. Überall der selbe Name. Die Jahreszahlen bewegten sich langsam in den nachchristlichen Bereich. Jede Akte umfasste einen Zeitraum von drei bis sechs Jahrzehnten. Keine Todesdaten, bei keiner davon.
    Irgendwann im späten Barock legte Ash den Stapel zurück zu den anderen und stützte sich nachdenklich auf den Wagen. Was hatte das zu bedeuten? Sollte sie auf eine der sagenhaften Aktenverschmelzungen gestoßen sein, von denen sie in der Kantine gehört hatte? Das war ein echter Super-GAU für ein bürokratisches System. Akten, die nichts miteinander zu tun hatten, außer einem gemeinsamen Faktor – wie zum Beispiel eine Namensgleichheit – hatten sich durch ein Versehen oder eine seltsame Form der Verlebendigung miteinander verschränkt, waren ineinandergerutscht, miteinander verschmolzen zu einem riesigen, unentwirrbaren Klumpen Papier. Solche Akten waren unbrauchbar, aber man konnte sie nicht einfach vernichten, denn das hätte dazu geführt, dass das Archiv unvollständig und lückenhaft wurde. Also legte man die verschmolzenen Akten an einem speziellen Ort ab – und das musste besagter Giftschrank sein!
    Ash atmete tief durch. Was für ein verdammtes Pech, dass ihr Leben durch einen Irrtum, einen falsch zugeschriebenen Mittelnamen, nun irreversibel mit dem der anderen Frauen verklebt war. Ihre Herkunft, ihre Kindheit – alles war von diesem Papierberg hier verschluckt worden. »Verdammt«, sagte sie laut. Das Gefühl, dass sie wissen wollte, woher sie kam und was zu ihrem Tod geführt hatte, glich mittlerweile einem nagenden, bohrenden, quälenden Zahnschmerz. Sie musste etwas unternehmen, um diesen Schmerz zu stillen. Aber die Akten würden ihr dabei nicht helfen können, das stand fest.
    Ash ließ ihre Hand in die Tasche gleiten und fühlte nach der Erinnerungstablette. Loki hatte ihr eingeschärft, sie nicht zu nehmen, bevor er wieder bei ihr war. Warum? Und warum hatte sie ihn das nicht gefragt? Sie berührte den Gimsteinn, das unscheinbare Juwel, das Loki ihr geschenkt hatte, und zog es ans Licht. Schimmernd schwarz wie eine matte Perle. So groß wie ihre beiden Daumennägel. Eine Oberfläche, die weder rau noch glatt war. Ash rieb den Stein zwischen den Fingern und schloss ihn fest in ihre Faust. Seine Berührung war tröstlich. Er war warm, weil sie ihn so lange am Körper getragen hatte. Seine Wärme war die eines lebenden Wesens. Ash seufzte.
    Sie erinnerte sich an ihre Verabredung mit Macnamara. Ash klemmte die von ihm bestellten Akten unter den Arm, schob den Wagen mit den sinnlos verschmolzenen Leben so in eine Ecke, dass er vor neugierigen Blicken versteckt war, und verließ die Werkstatt.
    Während sie zum Lift ging, dachte sie nach. Die Lemniskate im Aktenzeichen irritierte sie. Die liegende Acht war das Zeichen für Unendlichkeit. Und warum lagerte das Desaster in der Abteilung für unklare Zuständigkeiten? Es waren alles menschliche Frauen aus dem Norden und Westen Europas und ein paar Nordamerikanerinnen, wie sie in den späteren Epochen hatte sehen können. Das gehörte alles zu einer Abteilung, soweit sie wusste.
    Oder – sie blieb stehen, weil ein Gedanke sie traf wie ein Donnerkeil – oder sollten die Akten zu Lebenslinien von Existenzen aus unterschiedlichen Parallelwelten gehört haben? Das wäre natürlich ein katastrophales Durcheinander und würde die Ansammlung dieser sicherlich nicht allzu häufig vorkommenden Kombination aus Vor- und Nachnamen

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