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Projekt Armageddon

Projekt Armageddon

Titel: Projekt Armageddon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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gerissen hatte, und verband die schlimmsten Wunden an seinen Armen und Beinen damit. Sie knotete die letzte, sah auf und begegnete seinem wachen, schmerzerfüllten Blick.
    »Du wirst schlafen«, sagte sie und legte behutsam ihre Hand auf seine Stirn. »Du wirst schlafen und aufwachen, und wenn du aufwachst, wirst du keine Schmerzen mehr haben. Bist du durstig?«
    Sie füllte einen Becher mit dem Wasser aus der Quelle und hielt ihn an seine narbigen Lippen. Er benetzte sie ein wenig, nahm einen winzigen Schluck in seinen Mund, schluckte. Seufzte dankbar, schloss die Augen, todmatt. »Wer bist du?«, hörte sie ihn flüstern. »Meine Retterin, mein …« Er schlief, ehe sie antworten konnte.
    Ash schreckt auf. Sie ist eingenickt, findet sich nun in der Dämmerung an Mimirs schlafendes Haupt gelehnt. Sie beugt sich vor, küsst ihn noch einmal auf die Wange, erhebt sich und setzt ihren Weg fort.
    Hinunter geht es, immer weiter hinunter. Ash umrundet weiter Yggdrasils Stamm, an dem der Weg sich entlang in die Tiefe schraubt. Weit unter sich kann sie schon die eisgen Nebel von Niflheim und die glühenden Gefilde Muspellsheims erkennen. Hoch über ihr glänzen Asgards verlassene Mauern im Sonnenlicht, aber Ash versinkt langsam im Dämmerlicht der Tiefe. Sie setzt Schritt vor Schritt, Fuß vor Fuß und lässt ihre Gedanken in den dunklen Brunnen der Erinnerungen tauchen.
    Asgards goldener Saal. Hochaufragende, prachtvolle Mauern, schimmernd wie Sonnenlicht und strahlend wie die Regenbogenbrücke, die zur Burg hinüberführt. Der gutmütige Heimdall bewachte die Brücke, unermüdlich, auf sein Schwert gestützt, den Blick auf den Weg gerichtet.
    Sie hatte oft neben ihm gesessen, das Kinn auf die Knie gestützt. Er war der ruhigste ihrer Onkel, freundlich und jederzeit zu einem Schwätzchen bereit. Sie hatte ihn nur einmal wütend erlebt, und das war, als die Rede auf Loki kam. Er hasste den Feuergott mit wahrer Inbrunst.
    »Warum musst du hier wachen?«, hatte sie ihn gefragt.
    Er wandte den Blick nicht vom Weg, als er Antwort gab: »Sie werden kommen, und wenn sie kommen, muss ich bereit sein. Der Mistkerl will alles vernichten, aber noch stehe ich hier und verteidige die Brücke. Verdammtes Riesenpack! Verfluchter Meister der Lüge!« Er spuckte aus.
    Heimdall und Loki – der Feuergott würde den Wächter der Brücke einst töten, so lautete die Prophezeiung. Damals wusste sie noch nicht, dass die Weissagung der Seherin über den Göttern hing wie eine düstere Wolke, das Sonnenlicht trübte, den Geist in Finsternis hüllte.
    Da war Frigg, die traurige Asin. Ash hatte nicht ein einziges Mal erlebt, dass sie lachte oder das Wort an Odin, ihren Gemahl, wendete. Sie sah ihn nicht an, sie sprach nicht mit ihm. »Warum ist Amma so böse auf dich, Afi?«, hatte sie gefragt. Ihr Großvater hatte sie mit seinen starken Händen aufgehoben und auf sein Knie gesetzt und ihr erklärt, dass Frigg nicht ihre Großmutter war. Und dass sie deshalb sehr böse auf ihn sei, weil er nicht hatte verhindern können, dass ihr liebster Sohn getötet worden war, der goldene Baldur.
    Das hatte Ash traurig gestimmt, aber nicht für lange Zeit. Sie hatte nicht viel für Baldur übrig gehabt. Entweder sah er über sie hinweg, als wäre sie ihm lästig, oder er tätschelte ihr den Kopf, was sie fast noch schlimmer fand.
    Da mochte sie ihren Onkel Thor viel lieber – und sie hatte das Gefühl, dass auch ihr Afi, ihr Opa, diesen Sohn am meisten von all seinen Kindern liebte. Thor war laut und lustig, er war jähzornig, aber schnell wieder gut, und er war sich nie zu fein, ein kleines Mädchen vor sich auf sein Pferd zu setzen und mit ihm über die Regenbogenbrücke zu reiten.
    Schritt für Schritt hinab ins Dunkel. Asgard verdämmert im Abendlicht. Leer stehen die Säle, die Stimmen der Götter sind verstummt, die Regenbogenbrücke steht schon lange unbebewacht.
    Es wird kälter. Nebel ziehen von Jötunheim herauf wie stille Gespenster. Sie wendet sich zur anderen Seite, nach Muspellsheim hin. In Jötunheim liegt jemand starr wie ein Stein, jemand … Sie schreckt davor zurück, nach der Erinnerung zu tauchen. Schritt für Schritt. Raschelnd folgt ihr das Eichhörnchen an Yggdrasils Stamm, sie sieht das rote Fell, den buschigen Schweif blitzen, auftauchen, wieder verschwinden.
    Wieder springt ihre Erinnerung zu Loki, wie er sich fiebernd auf dem niedrigen Bett hin- und herwälzte. Er lag lange ohne Besinnung. Sie war allein mit ihm, Odin war gegangen

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