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Projekt Armageddon

Projekt Armageddon

Titel: Projekt Armageddon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Finger.
    Sie wartet, die Arme in die Seiten gestützt, den Kopf geneigt. Haar fliegt in ihr Gesicht, sie streicht es nicht fort. Ihr Blick fixiert den alten Mann, registriert jede Einzelheit seiner Erscheinung. Eine grobkörnige Fotografie. Ein Mann in einem weiten Mantel. Der Stock, die Augenbinde. Das weiße Haar. Die bärtigen Wangen, warum weiß sie, wie ihre Berührung sich an ihrer weichen Haut anfühlt?
    Er ist bei ihr, löscht das Sonnenlicht. Sie ist groß, aber er überragt sie. Breitschultrig, wuchtig, verdrängt er mehr Platz als seine reine Präsenz verschlingen dürfte.
    »Brynhildr?«, wiederholt er. Hebt die Hand, legt sie an ihre Wange. »Nein. Natürlich nicht. Du bist es, Hjördis.« Seine Stimme, die tief ist und klangvoll, verrät Überraschung und Zweifel. »Du bist kein Trugbild. Wie ist es dir gelungen, dich aus dem dunklen Land hierher zu retten?«
    Sie hebt die Hand, berührt in einem Spiegel seiner Geste seine Wange. »Ich … erinnere mich nicht.« Sie schüttelt den Kopf. »Du sollst mich nicht fragen. Es ist unwichtig. Ich habe den Auftrag, dich zu töten und dir etwas abzunehmen. Ich will nicht wissen, wer du bist. Meine Erinnerung weiß es, aber ich will sie jetzt nicht rufen. Ich habe mich entschlossen, den Weg weiterzugehen, den ich eingeschlagen habe, und dafür brauche ich meine Erinnerungen nicht. Gib mir den Speer, und ich werde gehen, ohne dich zu töten.«
    Sein Auge weitet sich. Er ist überrascht, aber er nickt. »Gungnir. Er wird dem, der ihn besitzen will, nichts nützen.« Sein Arm bewegt sich, reicht ihr den knorrigen Stab.
    Sie zögert. »Das ist kein …«, beginnt sie, aber ihre Worte versiegen. Sie sieht den glatten Schaft, in den Runen geschnitzt sind. Sie sieht das uralte Holz, die Spuren von Blut und seinen Händen. Sie sieht die scharfe Spitze, blauschimmernd, die vollkommen da ist und doch nicht fassbar. Sie erkennt die fraktalen Verästelungen, die von dem beinahe-existenten Rand der Spitze in den Nullraum wachsen. Sie lässt die Hand sinken, berührt Gungnir nicht.
    »Das ist kein Stock, aber es ist auch kein Speer«, sagt sie. »Mit dieser Waffe kann er die Welt beherrschen.«
    Der alte Mann lächelt. »Niemand kann das. Gungnir kann den Krieg rufen, wenn ich ihn werfe. Gungnir kann deine Seele auf seine Spitze spießen, wenn ich ihn stoße. Gungnir kann Tod bringen, wenn ich ihn schwinge. Aber dies alles bewirkt die Hand Allvaters, die ihn benutzt. Gungnir ist nur ein Speer.« Er macht eine schnelle Bewegung und drückt ihr den Schaft in die Hand. Sie schließt ihre Finger darum. Warm. Glatt. Pulsierend wie ein lebendiges Wesen. Gungnirs flüsternde Stimme singt das letzte der Lieder.
    Blitze erhellen das Feld. Der Riese steht breitbeinig auf seinem Hügel und lässt seine eintönige Aufzählung über die staubige Ebene donnern.
    Der brennende Speer fährt wie ein Blitz durch die Wolken und tötet den Riesen. Sobald er fällt, werden die Streitmächte der Dunklen und Hellen ihre letzte Schlacht schlagen.
    Lodernde Feuersbrunst rast an Yggdrasils mächtigem Stamm empor, ihre Äste entzünden sich krachend, ihre Blätter rollen sich in Schwärze zusammen und vergehen zischend. Der Himmel rötet sich von Horizont zu Horizont, und während die Weltesche Funken sprühend verbrennt, brechen die Riesen und die Ungeheuer unter Lokis Kommando aus der Tiefe hervor und werfen sich in die letzte Schlacht, aus der niemand zurückkehren wird.

    »Die Sonne verlischt, das Land sinkt ins Meer;
vom Himmel stürzen die heitern Sterne.
Lohe umtost den Lebensnährer;
hohe Hitze steigt himmelan.
    Der düstre Drache tief drunten fliegt,
die schillernde Schlange, aus Schluchtendunkel.
Er fliegt übers Feld; im Fittich trägt
Nidhöggr die Toten: nun versinkt er.«
    Sie lauscht Gungnirs Lied und schaudert. Spürt die Macht, die den schlanken Schaft durchströmt. Hebt den Blick, um Odin, dem Allvater, Gungnir zurückzugeben, aber der ist gegangen. Sie sieht seine wuchtige Gestalt durch den Schatten streifen, hell leuchtend das Haar, an seiner Seite lautlos Geri und Freki, über ihm seine beiden Raben, gedankenschnell, erinnerungsschwer. Odin verschwindet im Dunkeln, und als er noch einmal den Blick zu ihr wendet, sieht sie, dass er sich auf seinen Stock stützt.
    Sie starrt den Speer an, der warm und fest in ihrer Hand ruht. Seine Spitze, tief im Nullraum verankert, glänzt blau und kalt. Dies ist Gungnir. Sie hört sein Lied, fühlt seine Stärke, seine Macht brennt durch ihre

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