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Projekt Armageddon

Projekt Armageddon

Titel: Projekt Armageddon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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hervor. Es schüttelt sie, als sie das Bild betrachtet. Der scharfkantige Felsen grub sich in das gepeinigte Fleisch. Blut, überall war Blut. Sie hatten ihn mit den Eingeweiden seines Wolfssohnes gebunden, und sie stanken. Myriaden von Fliegen, sie legten ihre Eier in die offenen Wunden. Der Kopf des Bewusstlosen war zur Seite gesunken, aber immer noch in Reichweite des Geifers, der unablässig auf ihn heruntertropfte.
    »Wie kannst du das tun?«, hatte sie abgestoßen, angewidert gefragt. »Wie kannst du nur so barbarisch sein, jemanden derart zu foltern?«
    »Er ist ein Betrüger, ein Lügner, ein Dieb, ein Mörder«, hörte sie eine erbarmungslose Stimme antworten. »Er hat diese Strafe verdient.«
    »Das hat er nicht«, widersprach sie. »Niemand verdient eine solche Strafe. Töte ihn, wenn du meinst, dass du ihn tot sehen willst. Das hier ist deiner nicht würdig, Afi. Töte ihn oder binde ihn los. Deine Enkelin bittet dich darum!«
    Ash blickt auf, rettet sich vor den Bildern in ihrem Kopf. Das dunkle, moosbewachsene, rissige Felsgesicht des Riesen sieht sie unverwandt an. »Es war nicht richtig«, sagt sie. »Das ist barbarisch.«
    Der Riese seufzt. »Wir alle waren Barbaren, als wir jung waren«, sagt er wehmütig. »Das ist so, wenn du unsterblich bist, mächtig, wenn die Welt dir gehört. Wir Riesen waren die ersten. Dann kamen die jungen, die starken, die ungestümen Asen. Unsere Kinder, allesamt. Sie haben uns gestürzt und auf den Trümmern der alten ihre neue Welt erbaut.« Er lacht leise, und es klingt, als würden kleine Steine in einem Becher geschüttelt. »Jetzt sind sie selbst alt und warten zitternd auf ihr Ende. Das ist der Lauf der Welt, kleine Hjördis. Das ist der Lauf …« Er schläft mit offenen Augen ein.
    Ash sitzt in seinem Schatten und erinnert sich. Wie Loki von seinem Felsen herabstürzte und am Boden lag, zu schwach zum Wimmern. Seine tauben, nahezu abgestorbenen Glieder trugen ihn nicht, seine Hände waren gekrümmt vor Pein. Das Gesicht unter dem roten Haarschopf eine einzige nässende, schwärende Wunde.
    Sie war den langen Weg hinuntergerannt, hatte einen Streifen Stoff von ihrem Unterrock gerissen, ihn in Urds Quelle getaucht und war damit zu ihm zurücklaufen, um sein Gesicht abzutupfen. Ihr Großvater stand schweigend hinter ihr und sah zu. Sie glaubte, seine Missbilligung zu spüren, aber es war ihr gleichgültig. Sie wusch den Eiter von dem, was einmal ein Gesicht gewesen war. Lief wieder hinunter zum See, riss ihren Unterrock in viele Fetzen, tränkte sie, rannte zurück. Wann war das gewesen? Sie war zuvor schon einige Male gestorben und von Odin aus Hels Reich geholt worden. Gleichgültig, es war lang, lang her.
    Sie wusch Lokis Gesicht und seine blutigen Schultern. Die Wunden schlossen sich, aber die Narben blieben. Zu lang die Zeit, die er auf diesen Felsen gebunden gelegen hatte. Zu lang sogar für Urds heilendes Wasser.
    Sie hörte Odin sagen: »Loki ist schmuck und schön von Gestalt, aber bös von Gemüt und sehr unbeständig. Er übertrifft alle andern in Schlauheit und in jeder Art von Betrug.«
    Sie kannte das Zitat, es stammte von Snorri * , dem Dichter. Sie hatte das Skaldenhandwerk von ihm gelernt und dabei etliche Kannen Met mit ihm geleert.Er war ein verdammt gerissener Politiker gewesen, hatte sogar zweimal das Amt des Gesetzessprechers im Althing * innegehabt – aber zuallererst hatte er sich als Dichter und Lehrer verstanden. Er war ermordet worden, erinnerte sie sich. Armer, kluger Snorri Sturluson. Sie hatte ihn wirklich gern gehabt.
    »Schmuck und schön von Gestalt«, wiederholte Odin, und einer seiner Raben krächzte laut, als wollte er die Worte wiederholen.
    Ash wandte sich heftig um, wollte Odin für seinen bösen Spott zurechtweisen, aber sein Gesichtsausdruck ließ die Worte auf ihren Lippen sterben. Voller Trauer war er. Schuldbewusst? Er wich ihrem anklagenden, wütenden Blick aus, wandte das Gesicht ab.
    »Bringen wir ihn ins Haus«, sagte er rau. Er beugte sich nieder, hob den Bewusstlosen in seine Arme und trug ihn den langen Weg hinunter zu der winzigen Behausung am Ufer des Sees. Das kleine Haus war unbewohnt, aber jemand hielt es in Ordnung. Ash wusste nicht, wer es bewohnte. Die drei dunklen, schweigsamen Schwestern, die Urds Brunnen früher bewacht hatten, waren nie über des Hauses Schwelle getreten.
    Ihr Großvater legte Loki auf das schmale Bett und ging hinaus. Sie nahm die getränkten Binden, die sie aus ihrem Unterrock

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