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Projekt Armageddon

Projekt Armageddon

Titel: Projekt Armageddon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Tisch stand ein Becher mit Kaffee, daneben lag eine kleine weiße Tablette. Jemand hatte mit einem rußigen Span auf den Tisch geschrieben: »Erinnerung« und einen Pfeil zu der Tablette gezogen.
    Ash richtete sich auf. Sie fühlte sich am ganzen Leib wund und zerschlagen. »Erinnerung«, sagte sie und nahm die Tablette, drehte sie zwischen den Fingern. Unschlüssig. Wollte sie wirklich alles wissen? Wer sie gewesen war, wen sie geliebt hatte, was sie nun für immer verloren hatte? Dieses hart verdiente Geschenk war eine zweischneidige Klinge ohne Heft. Es konnte sie böse verletzen. Sie fasste die Tablette mit den Lippen, streckte die Zunge heraus und berührte sie. Erinnerung. Sie schmeckte nach nichts.
    Entschlossen spuckte sie die Tablette in ihre Hand zurück und verwahrte sie in ihrer Jackentasche, gleich neben dem Gimsteinn. Sie zog den Reißverschluss zu und legte die Hand schützend darüber. Jetzt nicht. Erst musste sie sicher gehen, dass es wirklich einen Ausweg aus diesem Gefängnis gab. Wenn sie am Ende doch hierbleiben musste, dann lieber ohne ihre Erinnerungen.

16
    Saß einsam draußen, als der Alte kam,
Der furchtbare Ase, und ins Aug mir sah:
Was fragst du mich? Was forschst du bei mir?
    E r sitzt am Feuer, zusammengesunken, die Hände ausgestreckt gegen die Glut, um sie zu wärmen. Sie kommt von draußen herein, den tropfenden Eimer auf die Hüfte gestemmt, und erschrickt.
    So hat sie ihn noch nie gesehen: So alt, so verkrümmt, so geschrumpft in seiner Haut und in seinen Kleidern. Ein Greis, kein knorriger Baum. Ein hilflos hockendes Bündel Knochen und Haut, kein zorniger, stürmischer, lachender, wütender Gott.
    Sie lässt den Eimer fallen, achtet nicht der Flut, die über den Boden läuft, und nicht der Nässe, die ihre Kleider tränkt. Sie eilt zu ihm, kniet nieder an seiner Seite, sucht die tödliche Wunde, aus der seine Lebenskraft sickert, und findet – nichts. Kein Blut, keine klaffende Wunde, kein giftgeschwollenes Geschwür. Nichts.
    »Lieber, was ist dir geschehen?«, fragt sie und berührt sanft seine Wange. Er wendet den Kopf, sieht sie an, sein Auge trüb und blind. Er atmet schwer und rasselnd ein, und sein Blick öffnet sich, erkennt sie.
    »Wala«, flüstert er. »Jörd. Mein Weib, mein Herz, mein Leben.« Er wendet sich zu ihr, sie zieht ihn in ihre Arme, hält ihn, wiegt ihn, und die Angst umklammert ihr Herz mit kalten Fingern.
    »Was ist dir geschehen?«, fragt sie erneut, sanft und doch drängend.
    Ein tiefer Atemzug hebt seine Brust, zitternd und voller Schmerz. »Ach«, seufzt er nur.
    Sie wartet geduldig, ihre Hand mit seiner verflochten, spürt ihr Herz, das schwer in der Brust schlägt, wie einen Stein.
    »Ach«, sagt er wieder, und dann: »Ich habe es nicht sehen wollen. Meine Zeit ist vorüber. Staub und Moder und zerfallende Ruinen. Das ist mein Leben, Jörd. Ihr hattet recht, du und mein verfluchter Bruder.«
    Sie drückt seine Hand fest zwischen ihren beiden und schüttelt den Kopf. »Was ist geschehen? So kenne ich dich nicht, so verzagt, so kleinmütig. Odin. Allvater. Sturmauge. Mein Wunschherr.« Sie lässt seine Hand fahren, zieht seinen Kopf mit beiden Händen zu sich, küsst Wärme in seine kalten Lippen.
    Zögernd erwidert er den Kuss. Sein Auge belebt sich, verliert den nebligen Schleier. Aber seine Miene bleibt eisumschlossen, weißbereift, winterkalt.
    »Wer hat dich verwundet, Siegherr?«, fragt sie. Er wendet den Kopf zum Feuer, erwidert nichts.
    Sie steht auf, blickt auf die Pfütze am Boden, den leeren Eimer, zuckt die Achseln. Sie nimmt den Becher, füllt ihn aus dem Krug, holt mit der Zange eine glühende Kohle aus dem Feuer und wirft ihn ins aufzischende Nass. Würziger Dunst füllt die Küche.
    »Trink«, sagt sie knapp und reicht ihm den Becher. »Ich wollte, du würdest einmal etwas essen, und sei es mir zuliebe. Auf dem Feuer kocht eine kräftige Brühe.«
    Er schüttelt matt den Kopf, doch er hebt den Becher an die Lippen. Der würzige, heiße Wein treibt Farbe in sein graues Gesicht. Seine Faust krampft sich um den Becher, mit einem Fluch, der den Himmel zum Dröhnen bringt, schleudert er ihn in die aufflammende, zischende Glut.
    »Besser«, sagt sie und atmet auf. »Viel besser, mein Mann.« Sie erhebt sich, nimmt einen zweiten Becher vom Bord und füllt ihn erneut. »Nun sage mir, was dir widerfahren ist.«
    Er vergräbt das Gesicht in den Händen. »Ich habe mich abfertigen lassen wie einen Bittsteller«, sagt er dumpf und voller Grimm.

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