Projekt Ikarus 02 - Im Zwielicht
sich töten. Lieber das, als zu etwas noch Schlimmerem zu werden als zu einer Abtrünnigen.
Als sie vor dem Gebäude des Sechzehnten Reviers landeten, fühlte Jet sich besser. Ihr Kopf schmerzte zwar immer noch höllisch, aber sie hatte sich wieder unter Kontrolle, obgleich sie völlig erschöpft war. Nocturne hatte sich eng zusammengerollt und löste die Verknotung ihrer Gliedmaßen noch nicht einmal, als sie wieder auf festem Boden waren. Jet überlegte kurz, ob sie die Frau in ihrer Fötushaltung einfach so vor der Tür des Commissioners liegen lassen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Es würde ihrem Ruf schaden, wenn irgendein Polizist oder vielleicht sogar Commissioner Wagner persönlich über Nocturne stolperte und sich womöglich den Knöchel brach.
Jet hatte ihre Gefangene auf die Füße gestellt und zerrte sie gerade die Stufen zum Eingang der Wache hoch, als eine schwarze Limousine an der Bordsteinkante hielt, gefolgt von einem ganzen Trupp Mini-Gleiter, über und über mit schreiend bunten Logos verschiedener Nachrichtensender beklebt.
Scheiße!, dachte Jet ausgesprochen deutlich. Dann stieß sie Nocturne noch heftiger an: »Na komm schon, beweg dich!« Im Augenwinkel nahm sie wahr, wie sich ein großer, in einen teuren Anzug gezwängter Muskelprotz aus der Limousine hievte. Ohne Zweifel ein Bodyguard. Während seine Augen den Block abscannten und er Jet und Nocturne betrachtete, brach unter den Reportern ein Gewitter von Blitzlichtern, Kameraklicken und gierigen Blicken los. Es war wie ein kleines Feuerwerk.
Gleich geschafft, dachte Jet und schob Nocturne mit aller Gewalt Richtung Eingangstür. Wenn es ihr gelang, in das Gebäude zu flüchten, wäre hier ganz schnell Ruhe. Normalerweise vermieden es die Medien, einen Fuß ins Innere des Polizeireviers zu setzen. Vor allem, seit Wagner einmal einem Reporter beinahe den Kopf abgerissen hätte, weil er mitten in ein Verhör geplatzt war und den Gefangenen gebeten hatte, in die Kamera zu lächeln.
»Jet«, rief eine Männerstimme. »Haben Sie einen Moment Zeit?«
Sie drehte sich um und sah den Muskelprotz vor der Limousine stehen. Über ihren Köpfen surrten und klickten die Kameras.
»Einen kurzen, Bürger«, stimmte sie zu. Sie hegte den Verdacht, dass das Gespräch mitgeschnitten und live in den Nachrichten übertragen wurde. Zu Nocturnes gefesselter Gestalt gewandt fügte sie hinzu: »Dann muss ich wieder an die Arbeit.«
»Verstanden.« Mit einer perfekten Geste öffnete er die Beifahrertür der Limousine. Zum Vorschein kam ein gut gekleideter Mann. Er war klein, fett und hatte genügend Duftwasser aufgelegt, um Colossal Man noch in zweihundert Meter Entfernung niederzustrecken.
Bürgermeister William Lee.
Hinter den Gläsern ihrer Optibrille verengten sich Jets Augen zu schmalen Schlitzen.
Zwei Wochen zuvor hatte dieser Kerl sich beinahe überschlagen, um Jet seine Dankbarkeit für all die Arbeit zu bezeugen, die sie als offizielle Heldin von New Chicago leistete. Aber dann hatte sie ihn vor den Kopf gestoßen, indem sie ihn auf einer Preisverleihung (ihrer eigenen, wohlgemerkt) im Regen stehen gelassen hatte, um Iridium zu stellen – zu dieser Zeit noch Staatsfeind Nr. 1. In der Tat hätte sie auf Lees Betreiben hin beinahe ihren Sponsorenvertrag mit der Stadt verloren.
Was also hatte das jetzt zu bedeuten?
Jet wünschte, sie könnte Ops kontaktieren und dort um Rat bitten, aber dafür blieb keine Zeit. Der Bürgermeister schritt bereits entschlossen und mit finsterer Miene auf sie zu. Jet schob ihre Erschöpfung und ihre Besorgnis beiseite, straffte den Rücken und hob den Kopf.
»Guten Tag, Sir«, begrüßte sie ihn. Das Lächeln auf ihren Lippen war nicht affektiert, oh nein. Es enthielt einen Anflug von Respekt. Die Kameras hielten auch noch die kleinste Nuance unerbittlich fest.
Der Bürgermeister starrte erst zornig auf sie, dann auf Nocturne. »Wird das Liegenlassen von Müll nicht mit einem Bußgeld geahndet?«
Sie lächelte dünn. »Wir sind auf dem Weg zu Commissioner Wagner.«
»Natürlich sind Sie das.« Er kam näher, so weit, bis er ihre persönliche Grenze eindeutig überschritten hatte. »Nocturne hat meiner Tochter letztes Jahr das Leben gerettet.«
Vorsicht, ermahnte Jet sich selbst. »Letztes Jahr war Nocturne ein wertvolles Mitglied der Schwadron.«
»Und jetzt?«
»Ich habe sie erwischt, als sie in die First National Bank einbrechen wollte, Sir. Sie kämpfte mit mir und wollte flüchten.«
»Und Sie haben
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