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Projekt Wintermond

Projekt Wintermond

Titel: Projekt Wintermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Meade
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hatte er lächelnd zu Jennifer gesagt: Ich bin gleich wieder da. Pass auf deinen kleinen Bruder auf.
    Jennifer schloss die Augen, dachte an das Echo seiner Schritte und brach in Tränen aus. Wie sie das Echo seiner Schritte vermisste, seine Stimme, seine Gesellschaft… Sie vermisste ihn schrecklich, und sie brauchte ihn. Aber er war nicht da. Und immer wieder gingen ihr die alles entscheidenden, alles umfassenden Fragen durch den Kopf.
    Warum?
    Warum war ihre Mutter ermordet worden? Warum war Bobby zum Krüppel geschossen worden? Warum war ihr Vater verschwunden, und wo war er jetzt?
    Schon einige Tage nach dem Vorfall war Jennifer im Krankenhaus von zwei Kriminalbeamten vernommen worden. Sie hatten wissen wollen, ob ihr Vater an Depressionen litt, ob er Beruhigungsmittel nahm und ob er ihre Mutter jemals geschlagen habe.
    Sie verneinte diese Fragen. Als sie die beiden Detectives nach dem Gespräch draußen auf dem Gang reden hörte, wurde ihr übel. Sie sprachen über ihren Vater, als wäre er für die Gräuel verantwortlich, als hätte er die Verbrechen begangen oder jemanden dafür bezahlt. Es war eine verrückte, unglaubliche Vorstellung. Niemals hätte ihr Vater versucht, sie, die eigene Tochter, zu vergewaltigen und zu töten! Niemals hätte er auf die eigene Frau und den Sohn geschossen oder jemanden bezahlt, der diese entsetzlichen Dinge für ihn tat!
    Jennifer öffnete die Schreibtischschubladen. Rechnungen und Kopierpapier, aber keine Spur von der Kassette, in der der gelbe Notizblock gelegen hatte. Sie konnte ihn im Arbeitszimmer nirgendwo finden. Unweigerlich musste Jennifer an den Vorfall denken, der die Wut ihres Vaters entfacht hatte. Damals hatte sie die Truhe auf dem Speicher entdeckt und die Papiere mit dem Namen Joseph Delgado gefunden. Jetzt fragte sie sich, ob es wirklich geschehen war. Es war eine Ewigkeit her. Existierte das alles nur in ihrer Einbildung?
    Vom Rauchen wurde ihr schwindelig, und der Scotch ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Die vielen Fragen und Erinnerungen wirbelten ihr durch den Kopf. Der Schmerz, die Trauer und die Angst kehrten wieder. Jennifer brach der Schweiß aus.
    Sie ging ins Bad und duschte kalt. Das Wasser ließ sie frösteln. Als sie sich angezogen, ihre Tasche gepackt und sämtliche Fotoalben verstaut hatte, ging sie noch einmal ins Arbeitszimmer ihres Vaters zurück. Sie sah den Schlüsselbund in einem Regal liegen. Zögernd nahm sie ihn und stieg die Treppe zum Speicher hinauf.
    Öffnete die Truhe.
    Sie war leer.
    Am Grab ihrer Mutter kehrten sämtliche Erinnerungen zurück. An der Beerdigung nahm Jennifer als einziges Familienmitglied teil. Es kamen nur einige Nachbarn, mehrere Verwandte ihrer Mutter, ein paar Kollegen ihres Vaters, die Jennifer bis zu jenem Tag nie gesehen hatte, und Kelso.
    Ihr Vater blieb spurlos verschwunden. Kein Wort, kein Brief, kein Anruf. Nichts.
    Bobby konnte aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands nicht an der Beisetzung teilnehmen. Als Jennifer ihn das erste Mal besuchen durfte, saß er hilflos in einem Rollstuhl. In seinen Nasenlöchern steckten Schläuche. Das Gesicht des Fünfzehnjährigen war blass und eingefallen.
    Kelso behielt Recht mit seiner düsteren Prophezeiung: Bobby konnte nicht laufen und nicht sprechen. Die Kugel, die seine Wirbelsäule getroffen hatte, hatte das Rückenmark geschädigt und die Lähmung des Körpers verursacht, und der Schuss in den Kopf schien sein Gedächtnis nahezu ausgelöscht zu haben. Nur ein wenig Kraft in den Händen war ihm geblieben. Der Polizeipsychologe ermunterte Bobby, aufzuschreiben und zu malen, was in der Mordnacht geschehen war, doch das Trauma war wie eine psychische Sperre, die es dem Jungen unmöglich machte, die Geschehnisse oder den Täter zu beschreiben. Der Anblick seiner brutal ermordeten Mutter hatte ihn zutiefst schockiert. Sobald der Psychologe das Thema anschnitt, zog Bobby sich in sein Schneckenhaus zurück. Er wollte nicht über seine Eltern und den Mord sprechen. Es schien, als wollte er den Vorfall aus seinem Gedächtnis streichen.
    Monate später setzte Jennifer ihr Jurastudium fort. Bobby musste aufgrund seiner Behinderung im Cauldwell-Pflegeheim untergebracht werden, wo Jennifer ihn jeden Tag besuchte, denn in den ersten Monaten nach den blutigen Ereignissen klammerten die Geschwister sich verzweifelt aneinander. Besonders Bobby wollte seine Schwester nach ihren Besuchen nie gehen lassen.
    Jennifer konnte es bald nicht mehr ertragen, allein in ihrem

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