Projekt Wintermond
herum, öffnete den Kofferraum und nahm das Kletterzeug aus dem Wagen: ein Nylonseil, einen zusammenklappbaren Wanderstock, Steigeisen und einen kleinen Nylonrucksack. Er schnallte den Kunststoffhelm an den Gürtel und warf sich das Seil über die Schulter.
Den Wagen hatte er in einer Höhe von tausend Metern geparkt. Selbst im Frühling war es kalt hier oben, und die Schneegrenze lag fast noch winterlich tief. Die Tour, die McCaul sich für diesen Tag vorgenommen hatte, war keine große bergsteigerische Herausforderung, eher eine anstrengende Wanderung. Das Seil nahm er dennoch mit, für alle Fälle.
Die Westseite des Wasenhorns befand sich auf Schweizer Territorium: die Ostseite lag auf der italienischen Seite der Grenze. Hier lag McCauls Ziel. Unterhalb des Gipfelgrats zog sich ein großer Gletscher hin, den er überqueren musste; dann ging es über brüchigen Fels bis zum höchsten Punkt. Doch als Entschädigung für die Anstrengungen bot sich dem Betrachter vom Gipfel ein fantastisches Panorama.
Bei gutem Wetter hatte man eine klare Sicht auf die Viertausender weiter im Westen und in die tiefen Täler, die Hannibal mit seinen Fußtruppen und Elefanten vor mehr als zweitausend Jahren auf dem Weg nach Rom durchquert hatte. Vom Gipfel des Wasenhorns konnte man auch den Simplonpass sehen, dessen bewegte Vergangenheit McCaul kannte: Napoleon hatte dort eine Million Tonnen Gestein herausschlagen lassen, um sein riesiges Heer nach Süden zum Italienfeldzug zu führen. Die Berge erstreckten sich bis zum Lago Maggiore. Der herrliche Blick auf Burgen, Dörfer und einsame Klöster war atemberaubend.
McCaul schloss den Renault ab, schnallte sich den Rucksack auf den Rücken und schaute auf die Uhr: 9.52.
Der junge Mann wusste nicht, dass weiter oben am Berg etwas auf ihn wartete – eine Begegnung der unheimlichen Art, mit der er nicht im Traum gerechnet hätte.
Trotz der warmen Wanderkleidung kroch die Kälte in seinen Körper. Nach einem anstrengenden Marsch erreichte McCaul den Gletscherrand. Er schaute den Berg hinunter und holte mehrmals tief Luft. Sein Atem kondensierte zu weißen Wölkchen, die in der kalten Luft davonwirbelten.
Vor McCaul lag ein tiefer, lang gezogener, zerklüfteter Felsspalt, der sich während der Eiszeit gebildet hatte, als Geröll und Felsen von der ungeheuren Kraft der Eismassen verschoben wurden. Ein eindrucksvoller Beweis für die Gewalt der Natur. In der Mitte der Felsspalte befand sich der Gletscher – eine blaue, schneebedeckte Eisschicht, die sich mehr als zweihundert Meter weit erstreckte.
Mittlerweile schien die Sonne. Der glitzernde weiße Schnee und der Höhendruck lösten bei dem jungen Bergsteiger leichte Kopfschmerzen aus. Er setzte seine Schneebrille und den Schutzhelm auf und stapfte weiter bis zum Gletscherrand, wo er die Steigeisen anlegte.
Die Eisen sorgten für guten Halt, als McCaul langsam und vorsichtig über das schneebedeckte Eis schritt, eingeschlossen von der weißen Kälte und der Stille, in der sein keuchender Atem und die knirschenden Schritte im Schnee überlaut zu hören waren. Eine halbe Stunde später, ungefähr fünfzig Meter vom oberen Gletscherrand entfernt, legte er eine Rast ein.
Ihm bot sich ein unbeschreiblicher Anblick. In der blauen Ferne lag Italien. Malerische Alpendörfer mit roten Dachziegeln klebten an den Berghängen, als trotzten sie der Schwerkraft. McCaul schaute prüfend zum Gipfel. Im Frühjahr schmolz ein Teil des Gletschereises und speiste mehrere Bergbäche, die ins Tal strömten. Für ungeübte Bergsteiger war es eine riskante Zeit für eine Gletscherüberquerung, noch dazu allein. Doch McCaul, auch wenn er mit seinen einundzwanzig Jahren noch nicht allzu viele Erfahrungen sammeln konnte, kannte den Weg. Vor zwei Jahren hatte er Ende September mit einer Bergsteigergruppe das Wasenhorn bestiegen. Jetzt aber war Frühling – eine ziemlich gefährliche Jahreszeit.
McCaul entdeckte mehrere schmale Rinnen im Schnee. Die tiefen Gletscherspalten, die der Höhendruck und die Kälte aufgerissen hatten, konnten zu tödlichen Fallen werden. Einige waren nur ein paar Meter tief, andere jedoch reichten bis auf den Grund des Gletschers in hundert Metern Tiefe – wahre Abgründe. Wenn man in diese Spalten fiel, gab es meist kein Zurück. McCaul sah drei Spalten, die etwa einen Meter breit und fünf Meter voneinander entfernt waren.
Er konnte sie nacheinander überspringen. Kein Problem für dich.
McCaul stieß vorsichtig mit der Spitze
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