Projekt Wintermond
Elternhaus zu leben, brachte es aber auch nicht übers Herz, die Villa zu verkaufen. Deshalb stellte sie eine Aushilfskraft ein, die sie aus dem Vermögen ihrer Mutter bezahlte und die sich um Garten und Haus kümmerte. Jennifer selbst mietete die kleine Wohnung in Long Beach, da sie das Bedürfnis hatte, wenigstens in der Nähe jenes Ortes zu sein, an dem sie ihre glückliche Kindheit verbracht hatte. Vielleicht hoffte sie noch immer auf die Rückkehr ihres Vaters. Dann könnten sie gemeinsam mit Bobby versuchen, nach den dramatischen Ereignissen ein neues Leben zu beginnen.
In der ersten Zeit besuchte Kelso sie des Öfteren, was ihren Schmerz ein wenig linderte. Er besuchte auch Bobby hin und wieder. Dabei wusste Jennifer fast nichts über diesen Mann. Kelso hatte ihr nie genau erklärt, wie er ihren Vater kennen gelernt hatte. Jennifer wusste nur, dass sie in derselben Branche tätig waren. Doch im Laufe des nächsten Jahres kam er immer seltener.
Noch lange nach den schrecklichen Ereignissen bekam Jennifer Besuch von der Polizei, da die Ermittlungen bislang erfolglos waren.
Können Sie sich inzwischen an irgendetwas erinnern, an irgendwelche Einzelheiten?
Jennifer erzählte von dem Tag, als sie die Papiere in der Truhe auf dem Speicher gefunden hatte. Sie erzählte von dem alten Foto und dem Namen des Mannes in der Gefängniskluft, der aussah wie ihr Vater: Joseph Delgado.
»Wir werden dieser Spur nachgehen«, versprach einer der Detectives. »Vielleicht bringt uns das weiter.«
Doch beim nächsten Besuch hatten die Beamten noch immer keine Spur gefunden. »Mit dem Namen hatten wir leider kein Glück, Jennifer. Irren Sie sich auch nicht?«
»Nein, ich bin mir ganz sicher.«
»Wir melden uns, sobald wir etwas Neues haben.«
Doch Monate zogen ins Land, und sie sah die Detectives nie wieder.
In manchen Nächten träumte Jennifer davon, der Mann, der ihre Mutter ermordet und das Leben ihres Bruders zerstört hatte, wäre geschnappt worden und sie stünde ihm als Staatsanwältin vor Gericht gegenüber und sorgte dafür, dass er auf dem elektrischen Stuhl landete. Zwar gab es in New York keine Todesstrafe mehr, aber darum ging es nicht: In ihrer Fantasie übte Jennifer Rache. Sie beobachtete, wie der Maskierte sich vor Schmerzen krümmte und um Gnade flehte. Hinter seiner Gesichtsmaske stieg Rauch empor, als der Strom durch seinen Körper schoss, bis er schließlich starb – und mit ihm der Kummer und die Wut Jennifers. Manchmal träumte sie, dass ihr Vater nach der Hinrichtung des Maskierten über den kleinen Pfad aufs Haus zulief wie damals in ihren glücklichen Kindertagen. Und wie damals lächelte er sie an und breitete die Arme aus, in die sie sich glücklich fallen ließ.
Doch es waren nur Träume.
Jennifer war achtundzwanzig Jahre alt, als sie ihr Jurastudium abschloss. Im letzten Studienjahr hatte sie pausenlos gebüffelt, hatte sich von allen Bekannten abgekapselt – auch von Mark Ryan, ihrem damals schon besten Freund – und sich ganz auf das Examen konzentriert. Der Rückzug von der Welt und das intensive Lernen waren zugleich eine Art Schutzmechanismus, der ihr helfen sollte, den Schmerz zu bewältigen. Jennifers knapp bemessene Freizeit ging für Jobs drauf, die sie angenommen hatte, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Den größten Teil des mütterlichen Erbes hatte sie als Treuhandvermögen angelegt. Von dem Geld sollte Bobbys Unterbringung im Cauldwell-Pflegeheim finanziert werden.
Nach vier Jahren harter Arbeit wurde der Traum von der Anwältin Wirklichkeit.
Die anderen Träume erfüllten sich leider nicht.
Der Maskierte, der ihre Mutter ermordet und auf Bobby geschossen hatte, wurde nicht gefasst. Und ihr Vater blieb verschwunden.
5
Schweizer Alpen
Nach dem Glauben der alten Römer verweilten die Geister der Toten in der Nähe der Gräber. Chuck McCaul hatte es mal irgendwo gelesen, hätte es aber nie für möglich gehalten, dass in den Bergen ein Geist auf ihn wartete.
Es fing an zu regnen, als er in seinem gemieteten Renault die steile Bergstraße hinauffuhr. Am Ende der Straße hielt McCaul und stieg aus. Der durchtrainierte, kräftige Mann mit dem kurzen blonden Haar war einundzwanzig Jahre alt.
McCaul ließ den Blick schweifen. Über ihm ragten die zerklüfteten Gipfel der Alpen auf. Ihn interessierte besonders einer: das Wasenhorn, ein Dreitausender, der einem gigantischen versteinerten Dinosaurier ähnelte, der aus dem Dunst ragte. McCaul ging um den Wagen
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