Projekt Wintermond
seines Wanderstocks in den Schnee. Das Eis schien fest zu sein. Der erste Spalt war nur ein paar Schritte entfernt. McCaul nahm Anlauf, und die Steigeisen gruben sich knirschend ins Eis.
Er hatte drei lange Schritte gemacht, als es geschah.
Seine Stiefel berührten soeben noch das Eis – und eine Sekunde später hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. Er trat ins Leere.
Mein Gott!
McCaul schrie, fand keinen Halt mehr und stürzte in die Gletscherspalte.
Als McCaul die Augen aufschlug, lag er rücklings im Eis. Es war bitterkalt; seine Zähne klapperten, und ihm war schwindelig. Er hatte das Gefühl, mit einem Baseballschläger verprügelt worden zu sein. Seine Glieder schmerzten höllisch, und ihm brummte der Schädel. Zum Glück trug er den Schutzhelm; der hatte ihm vermutlich das Leben gerettet. McCaul wusste nicht, wie tief er gestürzt war, sah aber über sich das Blau des Himmels. Die Entfernung war schwer einzuschätzen. Vielleicht zehn Meter.
Verdammt.
McCaul bewegte langsam Arme und Beine. Es schien nichts gebrochen zu sein. Er lag in einem Schneeberg, der seinen Aufprall gedämpft hatte. Eine kleine Lawine musste sich am Rande der Gletscherspalte gelöst haben.
Im ersten Moment überkam ihn Erleichterung, dass er noch lebte, doch dann stieg Panik in ihm auf. Auf seinem Gesicht bildeten sich Schweißperlen. Sein Herz pochte laut. Lange konnte er sich hier nicht aufhalten. Binnen kurzer Zeit würde er hier unten erfrieren.
Wieder schaute McCaul auf den kleinen Fetzen des blauen Himmels. Das Seil hing über seiner Schulter. Er dachte angestrengt nach. Ja, sagte er sich schließlich, es müsste dir auch ohne Seil gelingen, bis zum Rand hinaufzuklettern, wenn du Rücken und Beine kräftig gegen die Eiswände presst wie beim Kaminklettern.
Allmählich gewöhnte McCaul sich an das dämmrige Halbdunkel. Auch auf den blanken Wänden des blauen Eises spiegelte sich das Licht, das von oben in die Gletscherspalte fiel. Die Spalte zog sich scheinbar endlos in beide Richtungen. Hier und da war es stockdunkel.
McCaul streckte mehrmals Arme und Beine, um sich auf den Aufstieg vorzubereiten. Als er einen Fuß gegen eine Seite der Eiswand presste und sich mit dem Rücken die andere Seite hinaufdrückte, fiel sein Blick auf einen großen, dunklen, rechteckigen Fleck in der Eiswand ihm gegenüber. Was es war, konnte er nicht erkennen. Die Eisschicht behinderte den Blick.
Der junge Mann zog die Stirn in Falten und betrachtete den dunklen Fleck aus der Nähe. Er ließ sich wieder auf den Grund der Spalte hinunterrutschen und löste den Eispickel vom Karabinerhaken an seinem Gürtel. Die Eisschicht, die den seltsamen Gegenstand unter sich begraben hatte, schien nicht besonders dick zu sein. McCaul schlug das Eis weg, bis der Pickel auf etwas Weiches traf. Als er mit steifen Fingern den letzten Eisklumpen entfernt hatte, blickte McCaul erstaunt auf einen Rucksack.
Wie kommt der denn auf den Grund dieser Gletscherspalte?
Der Rucksack war in relativ gutem Zustand. Der Leinenstoff war gefroren; die Rückseite war im Eis festgefroren. McCaul zog mehrmals kräftig an dem Rucksack. Schließlich löste er sich knirschend. Er war sehr schwer.
Vergiss den Rucksack, Chuck. Sieh zu, dass du hier rauskommst.
McCaul war inzwischen durchgefroren, und seine Beine zitterten. Und vor ihm lag noch ein anstrengender Aufstieg – oder ein nicht minder langer Abstieg, falls er kehrtmachte. Er ließ den Rucksack liegen. Sollte die Bergwacht ihn bergen.
Erneut presste er den Rücken gegen die Eiswand. Sein eigener Rucksack, den er wieder auf den Rücken geschnallt hatte, minderte den Druck auf die Wirbelsäule, als er noch einmal den Aufstieg begann. Vorsichtig versetzte er Füße und Hände und drückte sich langsam die Eiswand hinauf.
Er hatte erst wenige Meter zurückgelegt, als er plötzlich zu Tode erschrak. Ihm stockte der Atem. Er war wie gelähmt, konnte sich nur mit knapper Not an den Eiswänden halten.
Mein Gott!
McCaul riss die Augen auf.
Das im Eis eingefrorene Gesicht eines Mannes starrte ihn an.
6
Schweizerisch-italienische Grenze
Der Hubschrauber erschien in tausend Metern Höhe aus den Wolken und kreiste mehrmals, ehe er zur Landung ansetzte.
Als das Geräusch der Rotoren verebbte, kletterte Vittore Caruso erschöpft vom Sitz des Copiloten. Er war ein kleiner, übergewichtiger Mann Anfang fünfzig mit grauen Augen und buschigem Schnurrbart, der wie eine Lenkstange geformt war. Er warf seine Zigarette
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