Projekt Wintermond
Sie legte auf und sagte: »Ja?«
»Haben Sie ein Zimmer für eine Nacht frei?«
Die Dame bat Jennifer, das Anmeldeformular auszufüllen. Anschließend führte sie den neuen Gast in ein großes Zimmer mit Holzdecke und Blick auf das Simplontal. Die Aussicht war herrlich. »Wenn Sie möchten, bitte ich den Koch, Ihnen etwas zu essen zu machen, Frau March.«
Jennifer hatte eigentlich keinen Hunger. Der Gedanke, morgen den Leichnam ihres Vaters zu identifizieren, ließ sie schaudern. Trotzdem, sie musste etwas essen. »Ja, gern. Das wäre nett.«
»Sie können im Speisesaal oder in der Gaststube unten essen. Gemütlicher ist es wohl in der Gaststube. Im Speisesaal sind Sie um diese Zeit ganz allein.«
Jennifer duschte, zog Jeans und einen Pullover an und setzte sich in der Gaststube in eine kleine Nische. An einer Wand brannte ein Holzfeuer. Mehrere Gäste, größtenteils Bauern, standen plaudernd an der Theke. Einige warfen Jennifer verstohlene Blicke zu. Die Kellnerin brachte ihr die Speisekarte. Jennifer bestellte eine Jägersuppe, eine kalte Platte mit Schweizer Käse und verschiedenen Wurstsorten, einen Salat und ein Bier.
Nachdem sie gegessen hatte, starrten die Männer an der Theke sie immer noch an. Schließlich kam einer zu ihr und stellte ihr ein Glas Schnaps hin. »Willkommen in Simplon«, sagte er in fließendem Englisch. »Dieser Schnaps wird hier bei uns gebrannt. Der stärkste, den Sie je getrunken haben, darauf wette ich. Man muss ihn nur schnell runterkippen. Sie sind Amerikanerin, nicht wahr?«
Der mittelgroße Mann mit dem struppigen Bart war Ende zwanzig und sah sympathisch aus. Er trug einen bunten Rollkragenpullover und Jeans. Jennifer ging davon aus, dass er sie anbaggern wollte; deshalb schob sie das Glas zur Seite und sagte höflich: »Ja, ich bin Amerikanerin. Und danke für den Schnaps, aber ich möchte allein sein, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Der Mann reichte ihr lächelnd die Hand. »Natürlich. Ich wollte mich nur vorstellen, da Sie mein Gast sind. Anton Weber. Ich bin der Hotelbesitzer.«
Jennifer errötete. »Oh, entschuldigen Sie.«
»Kein Problem. Sind Sie Touristin, Frau March?«
»Sieht man mir das an?«
Der Mann lachte. »Ich fürchte, ja. Bleiben Sie lange in Simplon?«
»Nein, nur eine Nacht. Ich bin auf der Durchreise.«
»Das ist schade.«
»Ich habe gehört, hier soll eine Leiche gefunden worden sein…«
Weber runzelte die Stirn. »Ach, das haben Sie schon gehört? Eine seltsame Entdeckung, wirklich. Das Eis soll den Leichnam konserviert haben. Sie sind doch nicht etwa Journalistin?«
Jennifer hatte keine Lust, einem Fremden den Grund ihrer Reise zu verraten. »Nein, ich bin nur neugierig. Die Sache hat mein Interesse geweckt.«
»Ein junger amerikanischer Bergsteiger hat den Leichnam im Wasenhorn-Gletscher gefunden. Er war Gast unseres Hotels. Unglücklicherweise verstarb er vor drei Tagen. Er stürzte tausend Meter tief in den Furkapass. Sein Körper wurde völlig zerschmettert. Von unserem Polizeiwachtmeister habe ich erfahren, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind und dass nachgeforscht wird, ob es gar kein Unfall gewesen sein könnte.«
Jennifer erstarrte. »Wollen Sie damit andeuten, er könnte ermordet worden sein?«
Anton Weber zuckte mit den Schultern. »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Gestern waren zwei Polizisten hier. Sie haben sein Zimmer durchsucht und seine Sachen mitgenommen. Mir kam das ziemlich merkwürdig vor.«
Jennifer lief ein kalter Schauer über den Rücken.
»Könnte ich mir den Gletscher ansehen, wo der Leichnam gefunden wurde?«
»Das schon. Aber Sie brauchen einen Führer, wenn Sie aufs Wasenhorn wollen. Um diese Jahreszeit ist der Aufstieg gefährlich. Der Schnee schmilzt. Darf ich fragen, warum Sie sich für den Gletscher interessieren?«
»Reine Neugier. Außerdem hat man von dort oben bestimmt eine fantastische Aussicht. Wo könnte ich einen Führer finden?«
Weber lachte. »Der steht vor Ihnen. Bevor ich die Leitung dieses Hotels übernahm, habe ich als Bergführer mein Geld verdient. Ich kenne den Wasenhorn-Gletscher wie kaum jemand anders.«
»Würden Sie mich dort hinaufführen?«
»Warum nicht? Aber Sie brauchen eine gute Kondition. Es ist eine anstrengende Wanderung.«
»Was kostet die Führung?«
Weber lächelte. »Der übliche Preis liegt bei zweihundert Schweizer Franken. Aber es wäre mir ein Vergnügen, Sie kostenlos zum Wasenhorn zu führen. Haben Sie die Ausrüstung
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